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Praxisinterview Sachsen-Anhalt

Zweiheimisch statt zwischen den Stühlen

Mit ihrem Projekt „Zweiheimisch:GeNial“ setzt sich die Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt für eine starke Willkommens- und Anerkennungskultur in den Kreisen und Gemeinden des Landes ein. Für Ausstellungs- und Theaterprojekte mit Kindern und Jugendlichen nutzt Projektleiter Mieste Hotopp-Riecke das kulturelle Wissen Zugezogener und setzt auf Mehrsprachigkeit als Ressource.

Mieste Hotopp-Riecke ist als promovierter Turkologe mit ausgewiesener Kenntnis über die Regionen Osteuropa, Mittlerer Osten und Nordafrika in verschiedenen Sprachen und Kulturen zu Hause. Neben seinen wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeiten ist er seit Anfang der 2010er-Jahre auch im Feld der kulturellen Bildung aktiv und hat unter anderem mit der Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen-Anhalt (LKJ) verschiedene Projekte realisiert. Seit 2021 leitet er bei der LKJ das Projekt „Zweiheimisch:GeNial“, welches über die Integrationsrichtlinie des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung gefördert wird. Um bei Kindern und Jugendlichen mit und ohne Migrationserfahrung mit kulturellen Bildungsangeboten Aha-Effekte zu erzeugen, lässt Mieste Hotopp-Riecke seither seine Expertise aus den Bereichen Migration und transkulturelle Regionalgeschichte in Städten und Dörfern des Landes in Projekten transkultureller Bildung zusammenfließen.

Aha-Effekte auslösen durch Migrationsgeschichte

Was bedeutet der Titel „Zweiheimisch“?

Mieste Hotopp-Riecke: Diesen Begriff entdeckten wir bei früheren Projekten und er begleitet mich schon seit über 20 Jahren. Ich benutze ihn gern, weil er doppeldeutig und schön ist: „Zweiheimisch“ bedeutet nämlich nicht, wie es oft heißt, „zwischen zwei Stühlen“ zu sein oder nicht zu wissen, wo man hingehört, sondern er sagt: Man kann „zweiheimisch“, also in mehreren Kulturen heimisch und kompetent sein. Der Begriff „zweiheimisch“ drückt kein Manko oder Nicht-entschieden-sein aus, sondern die Vielfalt und Bereicherung, „beides“ sein zu können.

Richten sich die Projekte vor allem an junge Menschen, die sich nach dieser Definition „zweiheimisch“ fühlen oder auch an „Einheimische“, die sich dafür interessieren, wie es ist, „zweiheimisch“ zu sein?

Mieste Hotopp-Riecke: Definitiv beides. Die Erkenntnis, dass bereits vor 400 Jahren Tatar:innen, Kurd:innen und Osman:innen im heutigen Sachsen-Anhalt gelebt haben, löst in der Regel großes Erstaunen auf allen Seiten aus. Dass Einwanderung kein neues Phänomen in der Region ist, sorgt sowohl bei Alteingesessenen als auch bei Zugezogenen für Aha-Momente.

Die historischen Aha-Effekte, die wir mit Forschungsergebnissen vermitteln, sind dabei lediglich der Aufhänger. Indem wir hier und heute lebende Zugezogene in die Projekte involvieren, kommen wir in der Jetztzeit und in den aktuellen Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen an. Ein wichtiges Element der „Zweiheimisch“-Projekte besteht daher in unserer Zusammenarbeit mit mehrsprachigen Teamer:innen, Künstler:innen und Kulturschaffenden, die ihre jeweilige Expertise mit ins Projekt bringen.

Kulturelles Wissen der Zugezogenen nutzen

Mit welchen künstlerischen Ausdrucksformen kommen die Teilnehmer:innen der „Zweiheimisch“-Projekte in Berührung?

Mieste Hotopp-Riecke: Im Rahmen von „Zweiheimisch:GeNial“ gibt es zwei künstlerische Säulen, die im Wesentlichen das Konzipieren und Organisieren von Ausstellungen und Theaterspielen umfassen. Zusätzlich reichert sich unser Werkzeugkasten an kulturellen und künstlerischen Ausdrucksformen mit jedem weiteren „Zweiheimisch“-Projekt, das wir durchführen, an: von Literatur über Kalligrafie und Geocaching bis zur Fotografie. Dabei versuchen wir, die jungen Teilnehmer:innen zunächst mit allen Sinnen abzuholen, indem wir etwas selbst herstellen, in Buchworkshops Papier schöpfen oder gemeinsam etwas kochen, und arbeiten mit lokalen Partner:innen zusammen. Sei es der Saz spielende Dönerverkäufer, die Besucherin eines Deutschkurses, die Kochkurse geben kann, ein kurdischer Schneider oder eine türkische Sopransängerin: Unter den Zugezogenen in Sachsen-Anhalt gibt es viel Wissen im Bereich der transkulturellen Bildung, aus welchem für die „Zweiheimisch“-Projekte geschöpft werden kann.

Wo in Sachsen-Anhalt finden die „Zweiheimisch“-Projekte statt?

Mieste Hotopp-Riecke: Interessierte Gruppen aus der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung kommen sowohl aus der Stadtlandschaft Magdeburg als auch aus ländlichen Regionen auf uns zu. Letztere nehmen wir besonders in den Blick, da dort die Strukturen transkultureller Bildung rar gesät sind. Zielgruppen außerhalb der städtischen Zentren im Rahmen von „Zweiheimisch:GeNial“ zu bedienen, ist auch ein Auftrag unseres Fördergebers.

Mit den Herausforderungen im ländlichen Raum kommen wir gut zurecht, indem wir lokale Strukturen nutzen. Leider sind die Angebote der Jugendhilfe nach der Wende vielfach weggebrochen. Daher liegt uns allgemein in den Projekten der LKJ daran, nachhaltige Strukturen der Kinder- und Jugendbildung zu stärken. Glücklicherweise können wir anhand von Vorgängerprojekten erkennen, dass einmal aufgebaute Netzwerke, aber auch physische Gebäude als „zweiheimische“ Orte nachhaltig funktionieren. Gute Beispiele dafür sind die „Old School“ in Havelberg, die Kleine Markthalle in Stendal oder der Jugendklub in Bittkau an der Elbe.

Wie haben sich bisher die Bildungsziele im Rahmen von „Zweiheimisch:GeNial“ eingelöst?

Mieste Hotopp-Riecke: Neben der transkulturellen Bildung ist der Spracherwerb ein wichtiges Bildungsziel. Einige unserer Teilnehmer:innen, aber auch Teamer:innen und Künstler:innen, die zu Beginn des Projekts kaum über Deutschkenntnisse verfügten, können sich mittlerweile auf Deutsch ausdrücken, arbeiten oder auch studieren. Eine ehemalige jesidische Teilnehmerin aus Magdeburg hat sogar einen eigenen Textbeitrag in unserem neuen „Zweiheimisch“-Buch publiziert. Darin geht es darum, dass unser Projekt ihr dabei geholfen hat, anderen auf gleicher Ebene zu begegnen und in ihrer Identität wertgeschätzt zu werden.

Mehr Aufmerksamkeit für transkulturelle Bildung

Die Themen Öffnung von Kulturinstitutionen und Diversität haben die kulturpolitischen Diskurse der letzten Jahre mitbestimmt. Können davon Projekte wie „Zweiheimisch“ profitieren?

Mieste Hotopp-Riecke: Es gibt mittlerweile tatsächlich eine höhere Bereitschaft, Projekte zu fördern, die sich mit den Themen Migration, Integration und mit transkultureller Bildung beschäftigen. Das ist eindeutig positiv, wenn auch leider einige Jahrzehnte zu spät erfolgt. Außerdem sind diese Projekte in der Regel immer noch prekär finanziert, nicht nachhaltig und bürokratisch überfrachtet. Eine Institutionalisierung und noch mehr politische Aufmerksamkeit wären hier wünschenswert.

Die Förderung von „Zweiheimisch:GeNial“ läuft noch bis April 2024. Welche Pläne gibt es noch bis dahin?

Mieste Hotopp-Riecke: 2023 wird die Ausstellung „Der Pascha von Magdeburg“, die bisher coronabedingt ausschließlich digital unterwegs war, in Präsenz durch Sachsen-Anhalt touren und wachsen. Außerdem bringen wir gemeinsam mit dem Theater der Altmark und freien Theatern die Theaterstücke „Der Pascha von Magdeburg“ und „Kalif Storch und die Sultanin der Altmark“ mehrsprachig auf die Bühnen Sachsen-Anhalts.

Weitere Informationen unter www.pascha-magdeburg.de

Beispielprojekt „Sultanin der Altmark“ 

Pavillon im Grünen

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