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In Hessen findet kulturelle Bildung von Anfang an statt.

Kulturelle Bildung in Hessen

Hessen ist ein Inkubator für Modellprojekte, impulsgebend für schulische kulturelle Bildung und hat sie ressortübergreifend weit oben auf die Agenda gesetzt. So finden sich in dem Flächenland zahlreiche Initiativen zur kulturellen Schulentwicklung und zur Versorgung ländlicher Räume mit Angeboten kultureller Bildung.

Ein Atelier auf dem Schulhof: Künstlerische Interventionen im Schulalltag

In aller Frühe rollt ein Tieflader-Konvoi durch den mittelhessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf. Sein Ziel: die Wollenbergschule, eine integrierte Gesamtschule in der Kleinstadt Wetter. Seine Mission: eine geheimnisvolle Fracht zur Schule zu bringen. Diese besteht aus vier gezimmerten Holzmodulen, die auf dem Schulhof montiert und nach und nach mit Leben gefüllt werden: Technik, Schreibtisch, Espressomaschine.

Bei den Schüler:innen ist die Verwirrung groß über das unbekannte Objekt, das unbemerkt vor ihrer Schule gelandet ist und trotz seiner Quaderform nicht an einen behelfsmäßigen Containerbau erinnert, sondern mit seinen Holzschindeln eher an ein einladendes Tiny House. Die Verwirrung wird nicht kleiner, als ihnen auf dem Schulhof plötzlich Menschen mit Pferde-, Panda- und Rotkehlchenmasken entgegentanzen. Das Schulgelände verwandelt sich in einen Club und eine Theater-Performance, die Schüler:innen staunen, lachen, machen mit. „Das ist sehr erfrischend“, kommentiert eine Schülerin das Geschehen.

Hinter der Intervention steckt der Künstler Jan Lotter, der von 2018 bis 2019 als einer der ersten Artists in Residence des „fliegenden Künstlerzimmers“ sein mobiles Wohnatelier an der Wollenbergschule aufgeschlagen hat. „Das fliegende Künstlerzimmer“ ist eine in Kooperation mit dem Hessischen Kultusministerium und dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst entwickelte Idee der Crespo Foundation, die seit 2018 an ausgewählten Schulen in ländlichen Gebieten in Hessen umgesetzt und im Schuljahr 2022/23 mit insgesamt sechs mobilen Ateliers an hessischen Schulen und einem zusätzlichen „Künstlerzimmer im Quartier“ in Frankfurt weitergeführt wird.

Das „fliegende Künstlerzimmer“ soll kreative Räume für Kinder und Jugendliche erschließen und ihnen Begegnungen mit Künstler:innen und künstlerischen Prozessen im Schulalltag ermöglichen. Die Schüler:innen sollen erkennen, dass Kunst viel mit ihnen zu tun habe, so die damalige Schulleiterin der Wollenbergschule: „Wenn das gelingt, dann haben wir hier unseren Bildungsauftrag wirklich auch ernst genommen und erfüllt.“ Die offenen Türen des „fliegenden Künstlerzimmers“ laden dazu ein – auch aus Sicht der Schüler:innen, die hoffen, „dass wir ein paar coole Sachen starten können und auch künstlerisch so‘n bisschen aus uns herauskommen“.

Impulse für die kulturelle Schulentwicklung im Land und bundesweit

Dass die Schule dafür der richtige Ort ist, gehört in Hessen zu den bildungs- und kulturpolitischen Überzeugungen. Das Land verfügt im Bereich der kulturellen Bildung und Schulentwicklung bereits über lange Erfahrung als Impulsgeber und hat in über 500 Schulen – einem Viertel aller Schulen im Land – langfristig die Teilhabe an Programmen kultureller Bildung ermöglicht.

Eines dieser Programme ist die „Musikalische Grundschule“. 2005 als Kooperationsprojekt entwickelt, wird es aktuell an 111 Schulen umgesetzt. Das Konzept der „Musikalischen Grundschule“ erklärt sich anhand der „vier M“: mehr Musik von mehr Beteiligten in mehr Fächern und zu mehr Gelegenheiten. Dabei geht es weniger um eine einseitige Stärkung des Unterrichtsfachs Musik, sondern um einen fächerübergreifend an Musik orientierten Unterricht: etwa, indem die Schüler:innen – begleitet von Musik-Koordinator:innen, die eigens im Rahmen des Projekts ausgebildet wurden – den Rhythmus von Sprache entdecken, Farben in Klänge übersetzen oder eigene Instrumente bauen. Mittlerweile hat sich das Konzept der „Musikalischen Grundschule“ in der hessischen Grundschullandschaft etabliert und wurde darüber hinaus in sechs weiteren Bundesländern übernommen.

Ein weiteres Modellprojekt mit bundesweiter Ausstrahlung ist das Schulentwicklungsprogramm „KulturSchule Hessen“, welches das Kultusministerium 2008 ins Leben gerufen hat. Das Programm zielt darauf ab, Schulen, die bereits über einen kulturellen Schwerpunkt verfügen, als „KulturSchulen“ aufzubauen. Um „KulturSchule“ zu werden, setzen die Schulen in ihrer Unterrichtsgestaltung, aber auch in der Organisationsentwicklung und Weiterbildung kulturelle Bildung weit oben auf die Agenda und beziehen das ganze Kollegium sowie lokale Kultureinrichtungen und Künstler:innen in diesen Prozess mit ein. Im Jahr 2022 ist das Netzwerk der zertifizierten und zukünftigen „KulturSchulen“ von anfangs fünf auf 33 Schulen angewachsen. Dies war auch durch eine Förderung durch das länderübergreifende Programm „Kreativpotentiale“ der Stiftung Mercator möglich. Durch das Peer-Learning im bundesweiten Projekt-Netzwerk ließen sich auch Vertreter:innen aus Ministerien oder Institutionen anderer Bundesländer vom Prinzip der kulturellen Schulentwicklung überzeugen und entwickelten an „KulturSchule Hessen“ angelehnte Projekte in ihren Ländern.

Auch die Qualifizierungsangebote zur kulturellen Bildung sind in Hessen bereits fortgeschritten: Seit 2014 bietet die Philipps-Universität Marburg den weiterbildenden Masterstudiengang „Kulturelle Bildung an Schulen“ an, der Lehrer:innen, aber auch Kulturvermittler:innen für die kulturelle Profilbildung von Schulen und ihre Öffnung zu außerschulischen Feldern qualifiziert. Letzteres ist von hoher Bedeutung für die kulturelle Bildungspraxis an Schulen, deren Qualität auch von der Einbindung außerschulischer Partner wie Museen, Theatern, Bibliotheken oder Opernhäusern sowie freischaffender Künstler:innen abhängt.

Dass (kulturelle) Bildungsbiografien nicht erst mit dem Schuleintritt von Kindern beginnen, ist allgemein bekannt – dennoch ist das Thema frühkindliche kulturelle Bildung oft noch Neuland in der bildungs- und jugendpolitischen Praxis. Das Hessische Ministerium für Soziales und Integration führt in dem gemeinsam mit dem Hessischen Kultusministerium erarbeiteten Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder bis zu zehn Jahren elf Bildungs- und Erziehungsziele im Zusammenhang mit früher kultureller Bildung auf. Passend dazu fördert das Ministerium für Soziales und Integration in dem Modellprojekt „KIKI – Kinder & Kino & der BEP“ des Deutschen Filmmuseums & Filminstituts Bildungspartnerschaften zwischen Kindertageseinrichtungen und Kinos. Von 2020 bis 2022 nahmen drei Tandems aus Kindertagesstätten in Fulda, Gelnhausen und Frankfurt gemeinsam mit je einem lokalen Kino an dem Projekt teil, in dessen Rahmen das Deutsche Filmmuseum & Filminstitut ein Fortbildungskonzept zur kulturellen Filmbildung im Sinne des hessischen Bildungs- und Erziehungsplans entwickelte.

Kulturelle Bildung als Teil der kulturpolitischen Strategie

Die Potenziale von Kultureinrichtungen zu nutzen, ist auch im Sinne der hessischen Kulturpolitik, die in ihrem „Masterplan Kultur“ kulturelle Bildung als eines von neun Schwerpunktthemen aufführt.

Laut dem „Kulturatlas“, der die kulturpolitischen Grundsätze des Landes zusammenträgt, „steht das fruchtbare Miteinander von freien und öffentlichen Trägern (…) klar im Fokus der hessischen Kulturförderung“. Eines der im „Kulturatlas“ beschriebenen Programme, das den „verdient hohen Stellenwert“ kultureller Bildung widerspiegelt, ist das Programm „Kulturkoffer“. Aus einem jährlich sechsstelligen Programmetat werden seit 2016 Initiativen gefördert, welche die kulturelle Teilhabe insbesondere junger Menschen vom dritten bis zum 27. Lebensjahr durch das Vermitteln künstlerischer Erfahrungen in ihrem sozialen Umfeld stärken. Seit Programmstart wurden bis 2022 über 250 Projekte aus dem „Kulturkoffer“ gefördert. Der „Kulturkoffer“ ist ein gemeinsames Programm der Landesvereinigung Kulturelle Bildung (LKB) Hessen e. V. und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst (HMWK): Finanziert wird es durch das HMWK, die LKB Hessen ist Trägerin und Koordinatorin des Programms.

Besonderheiten ländlicher Räume als Gegenstand kultureller Bildung

Zu den vom HMWK geförderten Projekten gehören auch die „FLUX-Künstlerresidenzen“, die den demografischen Wandel auf dem Land mit künstlerischen Mitteln begleiten. Jede der dreijährigen Residenzen ist von der Besonderheit ihres jeweiligen Orts geprägt: Das Theaterkollektiv „Studio Studio“ beschäftigte sich etwa mit einem verwaisten Fußballplatz in der Gemeinde Grebenhain, der in den 1960er-Jahren Ort eines Flugzeugabsturzes wurde, und näherte sich seiner vielschichtigen Vergangenheit gemeinsam mit den Bewohner:innen über eine Filmdokumentation.

Ebenfalls im ländlichen Raum fokussiert ist das Programm „LandKulturPerlen“, das Vereinen, Kommunen, Künstler:innen und Kreativen eine niederschwellige Einstiegsförderung für Projekte kultureller Bildung ermöglicht und damit auch den Beitrag lokaler Künstler:innen für die generationenübergreifende kulturelle Teilhabe hervorhebt. Nachdem das Mikroförderprogramm in zwei Landkreisen erfolgreich erprobt wurde, folgte 2020 die Ausweitung und Verstetigung des Programms. Über die Förderung hinaus bieten die LandKulturPerlen wichtige Vernetzungsmöglichkeiten, Beratung und kostenlose Weiterbildungsformate, um die Akteur:innen zu stärken. Die LandKulturPerlen werden genau wie der Kulturkoffer in Kooperation zwischen HMWK und LKB Hessen umgesetzt.

Auch das FILMmobil, ein im Rahmen des Kulturkoffers gefördertes Projekt des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums in Frankfurt am Main, engagiert sich für kulturelle Bildung abseits der Ballungszentren. Mit seinen Angeboten der Filmbildung, die von gemeinsamer Filmanalyse bis zum Kurzfilmworkshop reichen, macht das FILMmobil dort in Hessen Station, wo es gebraucht wird und nutzt regionale Kinos als Veranstaltungsorte. Und auch hier ist die landespolitische Überzeugung, dass Schulen auch Kulturorte sind, Teil des Konzepts: In kleinen Städten und Gemeinden, in denen es kein Kino in der Nähe gibt, werden auch sie für Workshops und Pop-up-Kinoaufführungen genutzt. Hessens Strategie für gelebte Teilhabe an kultureller Bildung geht auf: in der Stadt und auf dem Land wie in Kultureinrichtungen und Schulen.

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