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Praxisinterview

Die „Lernzeit Kultur“ als Bestandteil des Curriculums

Die Schüler:innen der Richtsberg-Gesamtschule in Marburg können ihre Lernprozesse zu einem großen Teil selbst gestalten. An der Schule gibt es jahrgangsgemischte Lerngruppen, die Lehrkräfte werden als Lernbegleiter:innen bezeichnet. Seit einem Jahr gibt es zudem das Fach „Lernzeit Kultur“, in dem die Schüler:innen verschiedene Kunstsparten und Kulturtechniken erlernen und sich darin spezialisieren können.

Dörthe Gerhardt ist Lernbegleiterin an der Richtsberg-Gesamtschule in Marburg. Sie ist außerdem Kulturschulbeauftragte ihrer Schule, die seit 2015 zertifizierte KulturSchule des Landes Hessen ist. Ergänzend dazu hat sie den Weiterbildungsmaster „Kulturelle Bildung an Schulen“ an der Philipps-Universität Marburg absolviert.

Jeremy Singer ist 15 Jahre alt und Schüler der 8. Klasse an der Richtsberg-Gesamtschule in Marburg. Er ist zudem festes Mitglied der „Light and Sound Crew“, die Veranstaltungen im Schulgebäude technisch betreut. Jeremy ist aufgrund dessen ab und an sogar am Wochenende freiwillig in der Schule.

Ihr seid Teil der Schulgemeinschaft der Richtsberg-Gesamtschule in Marburg, die bundesweit dafür bekannt ist, mit kultureller Bildung ihre Schule grundlegend zu verändern. Kunst und Kultur haben im Schulalltag einen besonderen Stellenwert. Wenn ihr anderen von eurer Schule erzählt, was hebt ihr dann besonders gerne hervor?

Jeremy Singer: Wir werden von den Lehrer:innen gefördert, wir haben viele Freiheiten in der Schule und können uns hier recht frei bewegen. Das ist auch durch die Ausweise möglich, die wir alle hier in der Schule haben. Sie zeigen, was ich alles darf. Ich finde es auch gut, dass ich in der „Light and Sound Crew“ bin. Dadurch kann ich zeigen, dass ich Verantwortung übernehme. Meinen Lernfortschritt bespreche ich einmal pro Woche mit meiner Lernbegleiterin in einem Coaching. Dabei geht’s dann auch um Probleme, die ich in der Woche hatte oder um besondere Dinge, die anstehen.

Dörthe Gerhardt: Unser Konzept heißt "PerLenWerk", das steht für „Personalisierte Lernumgebung und Werkstätten“. Wir haben keine Klassen mehr, sondern Lerngruppen. Darin sind 15 Schüler:innen von der fünften bis zur achten Jahrgangsstufe. Die Gruppen sind jeweils einem:einer Lernbegleiter:in zugeordnet, das ist unsere Bezeichnung für die Lehrkräfte hier. Die Jugendlichen dürfen sich relativ frei bewegen. Es gibt das Lernatelier, in dem alle ihren eigenen Arbeitsplatz haben. Sie dürfen Lernlandschaften besuchen und auch den Makerspace bei uns in der Schule; sie können also selbst wählen, wo sie in der Schule lernen möchten. Diese Ausweise, die alle Schüler:innen haben, zeigen die Stufen der Selbstverantwortung und diese werden nach Absprache unter den Lernbegleiter:innen vergeben. Es wird zum Beispiel in unserem digitalen Lernsystem hinterlegt, ob die Schüler:innen ihre Aufgaben tatsächlich erledigen. Die Schüler können das selbst auf ihren Tablets einsehen. Es gibt To-dos für jeden Tag, das wird nachgehalten.

Jeremy Singer: Ich habe den gelben Ausweis und damit darf ich zum Beispiel auch in der Cafeteria arbeiten, auf dem Außengelände und auch in der Medieninsel. Ich muss dann nicht fragen, sondern kann das selbst entscheiden. Ich habe diesen Ausweis mit diesen Möglichkeiten, weil ich den Lernbegleiter:innen gezeigt habe, dass ich Verantwortung trage und auch einen Verantwortungsjob habe. Das wäre zum Beispiel Stühle hochstellen oder überprüfen, ob im Lernatelier alle Türen geschlossen sind. Mein Verantwortungsjob bei der „Light and Sound Crew“ ist es, sicherzustellen, dass alle Geräte ausgeschaltet sind.

Schüler:innen setzen eigenständig Kulturveranstaltungen in der Schule um

Was ist die "Light and Sound Crew" und wie bist du dazu gekommen?

Jeremy Singer: Das ist eine AG, die freiwillig ist. Wie bauen die Sound- und Lichttechnik für Veranstaltungen auf. Wir steuern dann diese Technik für ganze Veranstaltungen über ein Misch- und ein Lichtpult. Technisch sind wir ziemlich gut ausgestattet. Wir betreuen nicht nur Schulveranstaltungen, sondern auch welche von außerhalb, die hier vor Ort stattfinden. Zudem zeige ich das, was ich mittlerweile alles kann, auch anderen. Das sind zehn Schüler:innen, denen ich freitags hier zusammen mit zwei Mitschüler:innen den Umgang mit der Technik beibringe. In der "Lernzeit Kultur" findet das statt.

Dörthe Gerhardt: Jetzt am Wochenende mietet sich hier zum Beispiel eine Veranstaltung des Kulturamts Marburg ein, die von unserer „Light and Sound Crew“ technisch komplett verantwortet wird. In unser Forum passen circa 600 Menschen, das heißt, bei uns finden auch durchaus umfangreiche, große Veranstaltungen statt. Zweimal im Jahr gibt es für eine Woche ein Coaching von einem professionellen Licht- und Soundtechniker. Das führt dazu, dass die Schüler:innen in der „Light and Sound Crew“ mittlerweile richtig gut sind. Ich merke das immer, wenn ich eine kleine technische Einrichtung benötige: Ich schreibe das als Bedarf in unser digitales Lernsystem und innerhalb von wenigen Minuten ist eine:r von den Schüler:innen da und löst für mich das Problem. Die arbeiten richtig gut. Das zeigt sich auch daran, dass bereits drei unser Schüler:innen mit Realschulabschluss hier bei einer großen Firma für Veranstaltungstechnik ihre Ausbildung begonnen haben. Das ist eigentlich unüblich, zuvor wurden nur Absolvent:innen von Gymnasien oder Fachabiturient:innen als Auszubildende angenommen.

Kultur als zukünftiges Hauptfach in der Schule

Was ist die "Lernzeit Kultur"?

Jeremy Singer: Das ist ein Fach, es wird mit einer Note bewertet und steht im Zeugnis. In diesem Jahr gibt es für das Fach 14 Wahlmöglichkeiten, davon können wir uns ein Angebot aussuchen. Das machen wir dann ein Jahr lang und im nächsten Jahr können wir uns ein anderes Angebot aussuchen. Die „Light and Sound Crew“ ist eines dieser Angebote, das ich dann auch mit durchführe. Ich könnte mich aber auch noch für eine ganz andere künstlerische Richtung entscheiden, zum Beispiel Theater.

Dörthe Gerhardt: Die "Lernzeit Kultur" ist unser neuer Lernbereich Ästhetische Bildung. Wir möchten, dass es den Status eines Hauptfachs bekommt und die Note dann auch entscheidend für den Abschluss wird. Dadurch, dass wir in Doppeljahrgängen arbeiten, haben wir einige Lehrer:innenstunden zusammenbekommen. Da wir eine große Fachschaft sind, haben wir viele Kolleg:innen, die spezielle künstlerische Ansätze und Kulturtechniken halbprofessionell ausüben. Diese Interessen und Fertigkeiten nutzen wir für die "Lernzeit Kultur". Es gibt jedes Jahr ein übergeordnetes Thema – in diesem Jahr ist es „Out of Space“ –, an dem sich die einzelnen Angebote inhaltlich orientieren. Darunter zu finden sind unter anderem „Musikproduktion am iPad“, „Produktdesign“ und „Plastisches Gestalten“, aber auch Tanz, Theater und Malerei. Die Angebote decken also das Curriculum ab. Wir setzen darauf, dass sich unsere Schüler:innen immer weiter in ihren Künsten spezialisieren können. Es gibt in der fünften und sechsten Klasse bereits Musikwerkstätten, dies können die Kinder dann in der siebten Klasse weiterführen, etwa im Orchester. Der Hintergedanke ist, dass sie dann in der neunten beziehungsweise zehnten Klasse ihre künstlerische Richtung gefunden haben, für die sie sich am meisten interessieren. Am Ende des Schuljahres tragen alle Gruppen etwas zu einer großen Kulturveranstaltung unter dem Oberthema des Jahres bei. Dadurch können die Schüler:innen dann auch einen Eindruck von den anderen Kunstsparten mitnehmen. Das Konzept ist noch neu bei uns an der Schule und wir optimieren es derzeit noch. Die Schüler:innen nehmen es jetzt schon richtig gut an.

Wissen zu nachhaltigen Kooperationen und Fördermöglichkeiten

Sie haben auch den Weiterbildungsmaster Kulturelle Bildung absolviert, Frau Gerhardt. Wie profitieren Sie von diesem Wissen in Ihrer Arbeit an der Schule?

Dörthe Gerhardt: Ich habe das Studium genutzt, um in ganz vielen Institutionen zu hospitieren. Ich wollte verstehen, wie die Eigenlogiken der angrenzenden Systeme sind: Wie funktioniert zum Beispiel eine Stiftung und wie komme ich an Fördermittel für meine Kulturvorhaben an der Schule? Ich habe mich auch viel damit beschäftigt, was Schule jenseits des herkömmlichen Schulsystems noch sein kann. Das hat mich wirklich weitergebracht, um meine Vorhaben hier umzusetzen. Auch zum Thema Kooperationen habe ich viel gelernt: Wie baue ich nachhaltige Kooperationen auf, was zeichnet gelungene Kooperationsbeziehungen aus? Durch das Studium habe ich zudem ein großes persönliches Netzwerk aufgebaut, das ganz verschiedene Kunstsparten umfasst. Das ist alles so bereichernd für meinen Arbeitsalltag. Ich kann mir die Kulturschulentwicklung also nicht mehr ohne dieses Wissen und ohne diese Beziehungen, die ich durch das Studium hinzugewonnen habe, vorstellen.

Kulturelle Bildung in Hessen

Kulturelle Teilhabe durch kulturelle Schulentwicklung und flächendeckende Versorgung: In Hessen ist kulturelle Bildung sowohl bildungs- als auch kulturpolitischer Schwerpunkt. Dabei setzt das Land verstärkt auf kulturelle Bildung von Anfang an und auf Kooperationen zwischen Bildungsinstitutionen wie Kindertageseinrichtungen oder Schulen und Kulturakteur:innen.
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