„Diversität ist in der Kultur kein vorübergehendes Trendthema, sondern ein langfristiges Transformationsprojekt“.
Die Kulturberaterin für Diversität und Partizipation Anna Zosik im Interview mit der Makura Redaktion.
Juli 2024
Die Frage, wie die Teilhabe einer breiten Vielfalt von Menschen an Kunst und Kultur erhöht werden kann, beschäftigt Kulturinstitutionen im In- und Ausland seit Jahren. Viele Programme mit diesem Schwerpunkt wurden bereits durchgeführt, abgeschlossen und evaluiert. Wo stehen wir heute in Deutschland?
Anna Zosik: Erfreulicherweise hat sich in den letzten Jahren in Deutschland im Bereich der Diversitätsentwicklung einiges getan. Eine wichtige Entwicklung ist das wachsende Verständnis dafür, dass Diversität und Teilhabe nicht einfach auf zeitlich befristete Projekte zur Befriedigung der Bedürfnisse marginalisierter Gruppen reduziert werden können, sondern dass es um strukturelle Veränderungen in den Institutionen selbst und um eine Neuorientierung der Denk- und Organisationskultur im Kultursektor geht. Diese Neuorientierung bedeutet, dass Diversität als integraler Bestandteil der gesamten Organisationsstruktur und -kultur betrachtet wird. Das umfasst unter anderem eine diversitätsbewusste Personalauswahl und -entwicklung, die Gestaltung inklusiver Programme, die Sensibilisierung der Führungskräfte sowie die Einbindung eines vielfältigen Publikums. Je nach Land, Kommune und Institution sind die Entwicklungen jedoch sehr unterschiedlich.
Wo sehen Sie zurzeit die größten Hürden bei der Umsetzung?
Anna Zosik: Es gibt verschiedene Herausforderungen. Zum einen fehlt es auf Seiten der Institutionen oft an personellen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen sowie teilweise auch an einem umfassenden Verständnis des komplexen Diversity-Diskurses in all seinen Facetten. Zum anderen mangelt es an der Umsetzung dieses Wissens in die Praxis, also die Übersetzung in den konkreten Transformationsprozess. Das lokale politische wie soziale Umfeld ist vielerorts für Kultureinrichtungen ebenfalls nicht förderlich. Viele Institutionen fürchten externe und interne Konflikte und Destabilisierung, weshalb sie sich mit oberflächlichen Bekenntnissen zur Diversität begnügen. Ein oft übersehener Faktor ist auch, dass Kultureinrichtungen über Jahrzehnte gelernt haben, Diversität als Trendthema im Kontext temporärer Krisen zu behandeln. Diese Temporalität steht allerdings im Kontrast zu dem Vorhaben einer diversitätsorientierten Öffnung, welche ein langfristiger Transformationsprozess ist.
Können Sie das näher erläutern?
Anna Zosik: In der Vergangenheit und auch jetzt reagieren Kulturinstitutionen mit ihren Programmen auf die gegenwärtigen Krisensituationen. Das ist auch ihre Aufgabe, die Auswirkungen und Ursachen dieser Krisen reflexiv für die Gesellschaft aufzuarbeiten. So rückten beispielsweise während des Balkankriegs oder des Syrienkonflikts Kriegsthemen, Geflüchtete oder Künstler:innen aus den betroffenen Regionen für eine Weile in den Fokus. Nach der Ermordung von George Floyd und dem Aufkommen der Black Lives Matter-Bewegung haben viele Kultureinrichtungen verstärkt nach der Zusammenarbeit mit Schwarzen Kulturakteur:innen und Communities gesucht. Postkoloniale Diskurse, die schon länger in ethnologischen Museen bearbeitet wurden, fanden so Eingang in Theater, weitere Museen oder Bibliotheken.
Diese temporäre Anpassung der programmatischen Ausrichtung und die Auswahl temporär interessanter neuer „Zielgruppen“, flankiert von zeitlich begrenzten Projektförderungen, prägt teilweise immer noch das Verständnis von Diversität als temporäres „Trendthema“. Dabei geht es beim Thema Diversitätsentwicklung um einen langfristigen institutionellen Wandel, um strukturelle Veränderungsprozesse auf allen Ebenen der Organisationen, bei denen Ressourcen längerfristig geplant und gebunden werden müssen. Es geht um das Erkennen von Diskriminierungsmechanismen und um die Schaffung von Zugängen für Menschen, die aufgrund ihrer kulturellen und sozialen Herkunft, Hautfarbe, Geschlechtsorientierung oder Behinderung noch nicht ausreichend in der Kulturlandschaft vertreten sind und gefördert werden.
In diesem Prozess sind es nicht die Kulturinstitutionen, die für sich in Anspruch nehmen können, der „Spiegel der Gesellschaft“ zu sein, sondern die Gesellschaft hält den Institutionen den Spiegel vor und weist auf ihre strukturellen Defizite hin. Das ist für viele Institutionen ungewohnt und verunsichernd. Es ist ein Paradigmenwechsel.
Wie können Leitungen von Kulturinstitutionen mit dieser Unsicherheit umgehen?
Anna Zosik: Zuallererst ist die Unsicherheit ein Teil des Transformationsprozesses. Für einige Leitungen von Kultureinrichtungen, die diesen Prozess verantworten, ist Unsicherheit jedoch eine unangenehme Situation. Normalerweise sorgen sie für Sicherheit und Klarheit in der Einrichtung.
Eine dezidierte Haltung, starke Motivation und aktive Rolle der Leitungen bei der diversitätsorientierten Öffnung gehört, wie die Ergebnisse aus dem 360°-Programm der Kulturstiftung des Bundes[1] zeigen, zu den wichtigsten Voraussetzungen für das Gelingen des Prozesses. Das heißt, von Führungskräften wird nicht nur erwartet, dass sie den Prozess grundsätzlich gutheißen und an Fachpersonal delegieren, sondern dass sie sich im Prozess positionieren, Entscheidungen treffen, Konflikte moderieren und Verantwortung übernehmen. Eine Leitung muss daher ihre eigene Unwissenheit und Unsicherheit akzeptieren und lernbereit sein. Kritikfähigkeit und Ambiguitätstoleranz sind einige der wichtigsten Kompetenzen bei diesem Prozess.
Diversität ist ein fortdauernder Aushandlungsprozess: Vielfalt, Differenz und Multiperspektivität zielen nicht auf Konsens. Meinungsunterschiede und Dissens sind ein Teil der diversitätsorientierten Öffnung. Dieser potenzielle Konflikt sollte allerdings von den Leitungen nicht als Hindernis, sondern als Ressource betrachtet werden, die für die Weiterentwicklung notwendig ist. Externe Unterstützung durch Fortbildungen, Beratung und die Einbindung von diversen Akteur:innen aus der Gesellschaft ist daher entscheidend. Vor allem aber ist es wichtig, dranzubleiben, glaubwürdig zu bleiben, sich dem Prozess nicht zu verschließen und Unsicherheit zu akzeptieren.
Können Sie uns ein Beispiel für einen gelungenen Umgang mit dieser Unsicherheit nennen?
Anna Zosik: Kürzlich habe ich mit der Direktorin des Altonaer Museums, Anja Dauschek, gesprochen[2]. Das Museum war eine von 39 Kultureinrichtungen, die an dem „360°-Programm“ teilgenommen haben, welches ich von 2017 bis 2023 für die Kulturstiftung des Bundes geleitet habe: ein Modellprogramm zur diversitätsorientierten Öffnung von Kultureinrichtungen. Sie erzählte mir, dass es zu Beginn des Prozesses bei ihr Unsicherheiten gab – vor allem über die eigene Rolle angesichts der fortgeschrittenen Diversitätsdiskurse und Erwartungen der Communities. Sich nicht sprechfähig zu fühlen, sei ungewohnt gewesen, sagte sie mir.
Das ist eine Erfahrung, die viele Führungskräfte machen. Aber das eigene Unwissen zu akzeptieren, dazulernen zu wollen, das Wissen der Mitarbeiter:innen wertzuschätzen und für die institutionelle Entwicklung zu nutzen, klappt nicht immer. Im Altonaer Museum hat Tanja Bah, die 360°-Community Kuratorin[3], viele Impulse gegeben, die von der Leitung aufgenommen wurden. Auch die Volontär:innen, so erzählte mir die Direktorin, kämen mit neuem Wissen und vielen kritischen Ansätzen. Sie selbst setzt ihre „direktorale Beharrlichkeit“ als Führungsinstrument ein, um Diversity als Querschnittsthema in der Institution zu verankern. Diese Haltung trägt erste Früchte: Die Säulenhalle im Eingangsbereich des Museums wurde zum „Wohnzimmer des Museums“ erklärt – ein kostenloser Aufenthaltsbereich, in dem Altonaer Communities und Vereine Ausstellungsprojekte und Veranstaltungen entwickeln können. Und die Anfragen werden immer mehr. Das Museum arbeitet kontinuierlich an Barrierefreiheit, der Aufarbeitung seiner kolonialen Vergangenheit, einer umfassenden Diversity-Strategie und vielem mehr. Diese strukturellen Maßnahmen des Museums gehen weit über projektbezogene und kurzfristige Veränderungen hinaus. Die Herausforderung bleibt nun, wie Anja Dauschek sagte, die Stelle der Community Kuratorin zu verstetigen.
Solche positiven Beispiele, auch außerhalb des 360°-Programms, gibt es bundesweit in Museen und anderen Kultureinrichtungen immer mehr.
Welche Aufgaben ergeben sich aus Ihren Beobachtungen für die kulturpolitische Ebene?
Anna Zosik: Auf einer übergeordneten Ebene ist Kulturpolitik ein zentrales politisches Orientierungs- und Steuerungssystem. Angesichts des Erstarkens rechtsextremer Parteien, die Kultur als vorpolitischen Raum für ihre völkisch orientierten Ideologien nutzen, bedarf es einer starken Kulturpolitik, die strukturelle Diskriminierung anerkennt und sich zu Vielfalt als Wertschätzung von Differenz und Demokratie bekennt. Es ist daher ein wichtiges positives Zeichen, dass einige Bundesländer[4] in ihren neuen Kulturentwicklungsplänen, Leitlinien oder kulturpolitischen Strategien Diversität und kulturelle Teilhabe explizit als Handlungsfelder definiert haben. Dies gilt umso mehr, als diese Entwicklungen unter Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, Künstler:innen und Kulturschaffenden, Kulturverwaltungen, Verbänden und Kultureinrichtungen angestoßen wurden. Diesen auf dem Papier festgehaltenen Leitlinien müssen aber auch kulturpolitische Taten folgen, sowohl in Bezug auf Fördermaßnahmen und Zielvereinbarungen als auch in Bezug auf die eigenen Organisationsstrukturen. Mit einer Kulturpolitik, die sich eindeutig zu Chancengleichheit, Abbau von Diskriminierung, Diversität und Teilhabe als Potenzial für die Zukunft bekennt, werden viele Akteur:innen vor Ort gestärkt, die diese Prozesse vorantreiben wollen.
An welchen Stellschrauben kann hier gedreht werden, um die vielerorts bereits angestoßenen Prozesse noch gezielter und effektiver zu fördern?
Anna Zosik: An vielen gleichzeitig. Es braucht sowohl umfassende Strategiekonzepte als auch finanzielle Mittel für die Umsetzung von geplanten Maßnahmen. Es braucht genauso Sensibilisierung und Wissen im System, z.B. über Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen, da die Stärkung der Diversitätskompetenz in Institutionen eine Voraussetzung für das Gelingen von Diversity ist. Fortbildungsangebote zur Organisationsentwicklung, eine diversitätssensible Kommunikation oder die Zusammenarbeit mit unterrepräsentierten Communities wären für den Kulturbereich daher sehr wünschenswert.
Weiterhin ist die Unterstützung unterrepräsentierter Kulturschaffender wichtig. Die spartenoffene IMPACT-Förderung[5] des Berliner Kultursenats im Bereich der Freien Künste ist hierfür ein gutes Beispiel. Zu diesem Zeitpunkt braucht es auch Förderprogramme, die auf langfristige Prozesse ausgerichtet sind und strukturelle Veränderungen in den Institutionen unterstützen: Das Förderprogramm "Publikum.Personal.Programm – Kultur divers und inklusiv“[6] des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft in NRW oder das Förderprogramm „Weiterkommen!“ des Zentrums für kulturelle Teilhabe Baden-Württemberg[7] sind ebenfalls zwei gute Beispiele. Durch diese Programme können Prozesse wie Strategieentwicklung, Teamfortbildungen oder die Entwicklung von partizipativen Programmen realisiert werden. Sie schaffen Verbindlichkeit. Auch die Einrichtung von Beratungsstellen und die Unterstützung von Netzwerken sind wichtige Maßnahmen. Langfristig sollte jedoch über kulturpolitische Instrumente nachgedacht werden, die eine nachhaltige Umsetzung von Diversität gewährleisten. Kulturpolitische Zielvereinbarungen, Diversitätsstandards, Monitoring von Diversitätsentwicklungen oder die kontinuierliche Erhebung von Diversitätsdaten gehören u. a. dazu.
Welche Form der Unterstützung wäre Ihres Erachtens in der aktuellen Lage gut?
Anna Zosik: Explizite temporäre Förderprogramme sind in der Anfangsphase, in der wir uns befinden, sehr hilfreich. Sie ermöglichen es den Kulturinstitutionen Erfahrungen zu sammeln. Längerfristig wird es aber ohne verbindliche kulturpolitische Ziele nur punktuelle Entwicklungen geben. Zu sehr hängen diese Entwicklungen von einzelnen engagierten Führungspersönlichkeiten ab. Und gerade diese besonders engagierten Führungskräfte wünschen sich logischerweise mehr Anreize als Vorgaben. Sie sind intrinsisch motiviert und verstehen sich als Vorreiter:innen. Verordnungen wirken auf sie oftmals demotivierend.
Für eine nachhaltige Verankerung von Diversity-Entwicklung in der Breite reicht dies jedoch nicht aus. Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Studie „Diskriminierungsrisiken und Handlungspotenziale im Umgang mit kultureller, sozioökonomischer und religiöser Diversität“[8]. Der Organisationsberater und Trainer für Diversity Management Andreas Merx schreibt darin, dass in Ländern wie Schweden oder Kanada, die eine wesentlich längere Tradition in der Antidiskriminierungs- und Diversitätspolitik haben als Deutschland, verbindliche Aktionspläne auf der Basis entsprechender gesetzlicher Grundlagen bereits seit vielen Jahren als wesentlich zielführender angesehen werden als rein freiwillige Ansätze. Letztere haben sich in der Vergangenheit in diesen Ländern als zu wenig effektiv erwiesen, um eine tatsächliche Gleichstellung zu erreichen.
Vielen Dank für das Gespräch, liebe Anna Zosik!
[1] „360°- Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“, kurz „360°-Programm“ genannt, ist ein Strukturentwicklungsprogramm der Kulturstiftung des Bundes, das sich mit diversitätsorientierten Öffnungsprozessen im Kulturbereich befasst, https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/transformation_und_zukunft/detail/360_fonds_fuer_kulturen_der_neuen_stadtgesellschaft.html
[2] Die Veröffentlichung der Passage erfolgt mit dem Einverständnis der Museumsdirektorin.
[3] Der/die Diversitätsagent:in (auch 360°-Community Kurator:in, Diversitätskurator:in, etc. genannt) war, als neue Funktion in der Institution, das wichtigste Förderinstrument im Rahmen des 360°-Programms.
[4] Zu den Beispielen gehören u. a.: Kulturentwicklungsplan Reinland-Pfalz https://keprlp.kupoge.de/ (Zugriff 15.07.2024), [4]
Kulturpolitische Leitlinien in Schleswig Holstein 2023, https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/K/kulturdialog/Downloads/20231214_kulturleitlinien.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (Zugriff 15.07.2024), Kulturpolitische Strategie Brandenburg, https://mwfk.brandenburg.de/sixcms/media.php/9/Kulturstrategiebf.pdf (Zugriff 15.07.2024)
[5] IMPACT-Förderung 2024, https://www.berlin.de/sen/kultur/foerderung/foerderprogramme/interkulturelle-projekte/artikel.82020.php (Zugriff 15.07.2024)
[6] "Publikum.Personal.Programm - Kultur divers und inklusiv“, https://www.mkw.nrw/kultur/foerderungen/publikumpersonalprogramm-kultur-divers-und-inklusiv (Zugriff 15.07.2024)
[7] „Weiterkommen!“, https://kulturelle-teilhabe-bw.de/angebot/foerderung/foerderung-weiterkommen (Zugriff 15.07.2024)
[8] „Diskriminierungsrisiken und Handlungspotenziale im Umgang mit kultureller, sozioökonomischer und religiöser Diversität“ - Ein Gutachten mit Empfehlungen für die Praxis, Autor:innen: Andreas Merx, Dr. Aleksandra Lewicki, Nathalie Schlenzka, Dr. Katrin Vogel, Herausgeber: Stiftung Mercator, Juli 2021
Anna Zosik arbeitet seit 2024 als Kulturberaterin im Bereich Diversität und Partizipation. Von 2017 bis 2023 leitete sie für die Kulturstiftung des Bundes das bundesweite Modellprogramm zur diversitätsorientierten Öffnung von Kultureinrichtungen „360°- Fonds für Kulturen der Neuen Stadtgesellschaft“. Zuvor war sie Projektmanagerin für Kulturelle Bildung und Diversität bei der Kulturprojekte Berlin GmbH und der Zukunftsakademie NRW in Bochum.
Sie studierte Bildende Kunst in Polen und Deutschland. Als Künstlerin hat sie zahlreiche partizipatorische Kunstprojekte mit verschiedenen Communities realisiert. Darüber hinaus war sie als Teaching Artist am Institut für Kunst und Visuelle Kultur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und als Gastdozentin am Institut Lehrberufe für Gestaltung und Kunst in Basel und an der Zürcher Hochschule der Künste tätig.
Weitere Informationen: http://www.anna-zosik.de/