boat people projekt
Win back Damascus
Bei der Sichtung touristischer Fotosammlungen von Damaskus entdeckt die Schauspielerin Lina Murad auf einem Bild ihren eigenen Schulweg wieder, auf einem anderen den „Park der Liebenden“, in dem sie mit 16 Jahren ihren ersten Kuss bekam. Jugenderinnerungen, die ihr die Tränen in die Augen treiben. Murad ist in Damaskus aufgewachsen, hat dort lange als Schauspielerin gearbeitet und lebt mittlerweile seit einigen Jahren in Paris. Der Grund, warum sie in den Urlaubsfotos anderer Menschen nach eigenen Erinnerungen forscht, betrifft viele Exil-Syrer:innen: Sie haben selbst keine Fotos von ihrer Vergangenheit mit der Stadt. Eine Besonderheit, die Amer Okdeh, ein in Damaskus aufgewachsener Künstler, erklärt: „Das Fotografieren in der Stadt war nicht möglich. Die Menschen standen permanent unter Druck, sie fühlten sich nicht frei genug, um draußen ein Foto zu machen. Das ging nur mit einer speziellen Erlaubnis.“
So sind Alltagsfotos von der Stadt hauptsächlich durch Tourist:innen entstanden, die in den 80er- und 90er-Jahren Damaskus bereist und dort fotografiert haben. Um dieses Material zugänglich zu machen und aus den Aufnahmen eine Art kollektives Erinnerungsalbum zu rekonstruieren, haben Amer Okdeh und die freie Theatergruppe boat people projekt die Inszenierung „Win back Damascus“ erarbeitet. Das vielschichtige Projekt umfasst Augmented Reality, verschiedene Apps zur Modifikation von Fotos sowie Live-Video und Performance.
Fakten zum Projekt
Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur, Fonds Darstellende Künste, Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Göttinger Kulturstiftung, KUNST e. V.
Mehrsprachiges Publikum
Theater
Juni bis Oktober 2022
Erinnerungen an eine Stadt zurückgewinnen
In der Göttinger Nikolaikirche steht Lina Murad im Altarraum, sichtet Fotos aus dem Archiv, ordnet und bearbeitet sie. Sie blickt mit ganz anderen Interessen auf die Motive als die Tourist:innen, die die Aufnahmen ursprünglich gemacht haben. Ihr Ziel ist es, ein fotografisches Gedächtnis der Stadt zu rekonstruieren und damit einen Zugang zu Erinnerungen zurückzugewinnen. Dafür „seziert" sie das Material, erstellt Fotocollagen, zerschneidet Bilder und setzt sie neu zusammen. Dadurch ist es ihr möglich, ihre Erinnerungen wiederzugewinnen und sich die Stadt zurückzuholen.
Zuvor konnten Zuschauer:innen, ausgestattet mit einer Augmented-Reality-Brille, beim Rundgang über den Kirchhof Orte und Objekte im historischen Damaskus erkunden. Über die reale Umgebung im Kirchhof legten sich nach und nach virtuelle Bilder. Dadurch verschmelzen Virtualität und Realität miteinander und Damaskus baut sich an diesem Ort in Göttingen auf. Nach der Erfahrung ist der Nikolaiplatz nun nicht mehr derselbe wie zuvor, wie eine Zuschauerin berichtete. Sie konnte in der erweiterten Realität abstrakte Gebilde erkunden, auf denen Fotos von der Stadt zu entdecken waren, Wohnhäuser aus Damaskus und eine große Statue von Machthaber Baschar al-Assad.
Deutsch-arabische Theaterarbeit
Das Projekt ist durch die persönlichen Geschichten und Erinnerungen der Ensemblemitglieder an Damaskus sowie die Erfahrungen mit Krieg und Flucht geprägt. Das Team des boat people projekt, das seit vielen Jahren mit mehrsprachigen Ensembles arbeitet, nahm sich bewusst zurück. Ihre Aufgabe bestand vor allem in der Übersetzungsleistung zwischen den vielen Sprachen und Gewerken. Die arabisch-stämmigen Kolleg:innen standen bei der Entstehung des Projekts mit ihren Erfahrungen und ihrem Blickwinkel auf das Thema im Vordergrund.
Besondere Produktionsbedingungen für digitale Theaterprojekte
Das zeitgleiche Entstehen der digitalen und analogen Elemente des Projekts stellte das Ensemble mitunter vor große Herausforderungen. Erst kurz vor der Premiere konnten die Theatermacher:innen mit den digitalen Inhalten arbeiten. Durch das Ineinandergreifen der Gewerke verzögerten sich viele Prozesse, da Regie und Schauspielerin mit den digitalen Formaten proben mussten. Eigentlich wäre es notwendig, bei Projekten dieser Art vorgelagerte Produktionszeiträume für Programmierer:innen einzuplanen, was jedoch unter gegenwärtigen Produktionsbedingungen für freie Theaterarbeiten kaum möglich ist. Dieser Umstand beeinflusst auch andere Theaterproduktionen mit digitalen Bestandteilen. Passendere Modelle für die Entstehung dieser besonderen Kunstformate müssen somit noch weiter erprobt und etabliert werden.
Der innovative Einsatz digitaler Instrumente innerhalb des Projekts sowie das große Übertragungspotenzial der Idee wurden mit einer Nominierung für den KULTURLICHTER Preis für kulturelle Bildung 2021 gewürdigt.