Logo: Makura
Goethe und Schiller, Forschung und Entwicklung: Kulturelle Bildung in Thüringer Lebenswelten

Kulturelle Bildung in Thüringen

Von der Weimarer Klassik über das Bauhaus bis zur Residenzkultur: In Thüringen verdichtet sich kulturelles Erbe verschiedener Epochen und Stile auf engem Raum. Gleichzeitig ist der Freistaat von ländlichen Räumen mit ihren jeweils eigenen kulturellen Lebenswelten jenseits von Goethe und Schiller geprägt. Kultur in diesen verschiedenen Spielarten ernst zu nehmen und künstlerische Erfahrungen entsprechend weiträumig zu ermöglichen, sind wichtige Ziele der Gestaltung kultureller Bildung in Thüringen.

Kultur:Labor und Feldversuch: Kulturelle Bildung vor der Haustür

„Ergötzen ist der Musen erste Pflicht / doch spielend geben sie den besten Unterricht“ – vielleicht war es auch dieser Vers aus seinem Werk „Idris“, der seinerzeit Herzogin Anna Amalia davon überzeugte, den Dichter Christoph Martin Wieland als Prinzenerzieher an ihren Weimarer Hof zu rufen. Wieland, seinerzeit einer der bekanntesten Schriftsteller weit und breit, sollte den künftigen Herzog Carl August nicht zuletzt durch kulturelle Bildung auf sein Amt vorbereiten. Er unterrichtete nach seiner Ankunft 1772 nicht nur ihn und seinen Bruder, sondern machte mit Unterstützung Anna Amalias aus dem bäuerlichen Weimar einen kulturellen Hotspot, der die Weimarer Klassik einläutete.

250 Jahre später wirkt in Weimar das Erbe Anna Amalias und Wielands, Goethes und Schillers, Nietzsches und des Bauhauses fort: Die Mittelstadt an der Ilm ist überreich an kulturellem Erbe. Dass Thüringen auch darüber hinaus vielfältige Anknüpfungspunkte für die kulturelle Bildung bietet, erkundete ausgerechnet die Klassik Stiftung Weimar von 2021 bis 2022 im Rahmen des Programms „Kultur:Labor Thüringen“.

Gewagt wurde ein Feldversuch: In Kooperation mit vier Schulen lotete das Projektteam des Kultur:Labor die Frage aus, wie Kulturvermittlung regionale Lebenswelten nicht nur berücksichtigen, sondern zu ihrem Gegenstand machen kann. Dass die regionalen Bedingungen im Freistaat spannungsreich sind, zeigt die Landkarte der Thüringer Lebenswelten in der zum Programm entwickelten Handreichung „Kulturelle Bildung vor Ort“: In dem vergleichsweise kleinen Land treffen reichhaltige Residenzkultur, 43 öffentliche Theater und 18 Welterbestätten auf einen geringen Anteil junger Menschen in der Bevölkerung und viel Leerstand Vor diesem Hintergrund setzte die Klassik Stiftung Weimar als Trägerin von „Kultur:Labor Thüringen“ in Kooperation mit der Thüringer Staatskanzlei und dem Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport darauf, kulturelle Bildung in Zusammenarbeit mit regionalen Partner:innen, Kulturinitiativen und Künstler:innen direkt vor die Haustüren ihrer Zielgruppen zu bringen.

Wie das konkret aussehen kann, zeigt der an der Gemeinschaftsschule TGS Tonna entstandene Audiowalk. Dessen Ausgangspunkt war das Schloss Tonna: Über Jahrhunderte als Grafensitz und dann bis zur Wendezeit als Gefängnis genutzt, ist es mittlerweile dem Verfall überlassen und dennoch ein bleibendes Wahrzeichen der rund 3.000 Einwohner:innen fassenden Gemeinde. Mit Recherchen und Interviews näherten sich die Schüler:innen, begleitet von Künstler:innen, der Ortsgeschichte und -gegenwart und hielten diese in einem Audiowalk für Nachbar:innen und Besucher:innen des Ortes fest. „Es war total schön, zu sehen, wie sich die Arbeit an der leer stehenden Burg und der Residenzkultur in Thüringen über unseren eigenen Projekte hinaus an der Schule zum Jahresthema entwickelt hat“, wird eine Projektmitarbeiterin in der Dokumentation zitiert, „die Förderschüler:innen haben ein Modell der Burg gebaut und es wurde mit Unterstützung lokaler Vereine ein Theaterstück auf die Beine gestellt.“

Vom Modellprogramm zur Verstetigung: Kulturagent*innen Thüringen

„Kultur:Labor Thüringen“ wurde im Rahmen des länderübergreifenden Programms „Kreativpotentiale“ durchgeführt – gefördert von der Stiftung Mercator, die auch in Kooperation mit der Kulturstiftung des Bundes im Jahr 2011 das Modellprogramm „Kulturagent*innen Thüringen“ zur Förderung künstlerischer Prozesse an Schulen initiierte. Nach mehrjähriger Pilot- und Transferphase ging das Programm im August 2019 in die Verstetigung über als landesweite Maßnahme „Kulturagent*innen Thüringen“.

Mittlerweile sind fünf Kulturagent*innen in Thüringen aktiv. Ihre Rolle besteht darin, an Schulen kreative Projektvorhaben umzusetzen, die anschlussfähig an die Lebenswelten der Schüler:innen sind und Beteiligung an künstlerischen Prozessen ermöglichen. Dafür unterstützen die Kulturagent*innen die Zusammenarbeit zwischen Schulen und regionalen Akteur:innen der kulturellen Bildung. Entstanden sind so im Rahmen von „Kulturagent*innen Thüringen“ ganz unterschiedliche Projekte: von Graffiti-Gestaltung im Klassenzimmer, am Schulgebäude oder im öffentlichen Raum bis hin zu den Schüler:innen der staatlichen Regelschule „Otto Dix“ in Gera, die sich in der experimentellen Musik übten, im kreativen Schreiben von Spukgeschichten oder in der künstlerischen Auseinandersetzung mit ihrem Heimatfluss, der Weißen Elster, in Skizzen und Kompositionen.

Gemeinsame Sache: Ressortübergreifende Zusammenarbeit für kulturelle Bildung

Um solche künstlerischen Vorhaben in Zusammenarbeit mit den beteiligten Kulturagent*innen, Kultureinrichtungen und Künstler:innen umzusetzen, können alle allgemeinbildenden Schulen in Thüringen jährlich ein „Kunstgeld“ von bis zu 2.000 Euro beantragen, welches jeweils zur Hälfte von der Thüringer Staatskanzlei und dem Thüringer Ministerium für Bildung und Jugend finanziert wird.

Aber nicht nur mit Blick auf die Finanzierung ist „Kulturagent*innen Thüringen“ ein Beispiel für ressortübergreifende Zusammenarbeit im Bereich der kulturellen Bildung. In Thüringen ist für jeden der fünf Schulamtsbereiche des Landes eine Kulturagentin zuständig, die eng mit den entsprechenden Schulamtsreferent:innen für kulturelle und politische Bildung ihres Bereichs zusammenarbeitet.

Ein weiteres Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Kultur- und Bildungsbereich ist der Kulturrat Thüringen, der seit 2011 als landesweiter Dachverband der kulturellen Spartenverbände aktiv ist. Wichtiges Thema der Verbandsarbeit ist die kulturelle Bildung, etwa in der AG Kultur und Bildung oder im Rahmen der Fachtage Bildung und Kultur. Darüber hinaus arbeitet der Kulturrat zusammen mit dem Thüringer Institut für Lehrplanentwicklung, Lehrerfortbildung und Medien an der Entwicklung von Lehrkräftefortbildungen und der Gestaltung außerschulischer kultureller Lernorte.

Next Practice: Perspektiven kultureller Bildung in Thüringen

Trotz der bereits erzielten Erfolge geht der Blick in Thüringen nach vorn: Wie können Kultureinrichtungen und -initiativen als Bildungs- und Begegnungsorte weiter gestärkt werden? Wie kann die Teilhabe an kulturellen Angeboten weiter verbessert werden, um lebenslange kulturelle Bildung zu ermöglichen? Diese und andere Fragen stellt der Kulturrat Thüringen in seiner Evaluation „Perspektiven Kultureller Bildung und Teilhabe“ zur Fortschreibung der Thüringer Kulturkonzeption.

Während der Evaluationsbericht noch in Arbeit ist, haben einige Thüringer Initiativen bereits neue Perspektiven kultureller Bildung eröffnet, die Kinder und Jugendliche in ihren verschiedenen Lebenswelten abholen.

So gestaltet mit der Jugend-App „Get !t“ die Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Thüringen seit 2019 gemeinsam mit jungen Redakteur:innen eine landesweite Plattform der kulturellen und politischen Jugendbildung. Die Mitglieder der Jugendredaktionen in Erfurt, Gera, Jena und Weimar lernen dabei journalistisches Handwerkszeug von der Recherche bis zum Podcasten.

Oder das 2022 begonnene Tandem-Projekt, mit dem die der Gedenkstättenarbeit verpflichtete Stiftung Ettersberg die Thüringer Museumslandschaft diverser und inklusiver machen möchte: In Kooperation mit „kult-werk inklusiv“ – Inklusive Werkstatt für Kultur und Geschichte werden Menschen mit und ohne Behinderung zu einem Team ausgebildet, das gemeinsam in einfacher Sprache durch die Dauerausstellung der Gedenkstätten Andreasstraße in Weimar führt.

Auch das Theater Erfurt möchte mit „Pandora“ junge Menschen in ihren Lebenswelten abholen: Bis zur für Juni 2023 geplanten Premiere beschäftigen sich Erfurter Jugendliche ein Schuljahr lang mit der Frage nach der „Reparierbarkeit“ der Welt und übertragen den Pandora-Mythos in ihre Zeit – mit Videos, Choreografie und Musikbeiträgen. Eine der Leitfragen lautet: Woraus entstehen Hoffnung und Zusammenhalt, wenn die Welt aus den Fugen geraten scheint? Ein fast schon klassisches Thema, bei dem sich der rote Faden kultureller Bildung in Thüringen noch einmal zeigt – in der Verknüpfung von Kunst- und Kulturerbe mit aktuellen Lebensrealitäten.