Kulturelle Bildung in Bremen
Das Land Bremen mit seinen zwei Städten Bremen und Bremerhaven an Weser und Nordsee ist in seiner Vielfältigkeit einmalig – mit höchst unterschiedlichen Quartiersstrukturen von industriell bis maritim, von urban bis ländlich, von touristisch erschlossen bis von sozialer Ungleichheit betroffen. Kulturelle Teilhabe unabhängig vom Wohnquartier der Bürger:innen und vor allem der Kinder und Jugendlichen im Land zu ermöglichen, ist ein bildungs- und kulturpolitisches Ziel im Land Bremen. Entsprechend findet kulturelle Bildung besonders dort statt, wo (junge) Menschen in ihrem alltäglichen Lebensumfeld anzutreffen sind: in ihren Schulen und Stadtteilen.
Schulalltag im kreativen Ausnahmezustand: Ein ganzer Jahrgang „On Stage“
Quadratische Gleichungen, Weimarer Republik, der elektrische Stromkreis – übliche Themen, die nicht nur in Bremen Schüler:innen im Verlauf ihres neunten Schuljahrs erwarten. Aber an der Bremer Oberschule am Waller Ring ist der Eintritt in die neunte Klasse mit einer zusätzlichen Besonderheit verbunden: Ein ganzes Schuljahr lang nimmt der komplette Jahrgang im Rahmen des Projekts „OpusEinhundert – On Stage“ an einer Musiktheaterproduktion teil – ob im Bereich Bühnenbild, Kostüm, Kunst, Musik oder Schauspiel, wählen die Schüler:innen selbst. Zwei Schulstunden pro Woche und zusätzliche über das Jahr verteilte Proben werden dem Projekt gewidmet, bevor die Produktion zur Aufführung kommt. Neben den Künstler:innen der gemeinnützigen Kulturinstitution OpusEinhundert, die ihren Sitz wie die Schule im Stadtteil Bremen-Walle hat, wirken auch die Lehrkräfte an der Entstehung des Gesamtkunstwerks mit.
Eine Dokumentation der ersten Ausgabe von „On Stage“ von 2018/19, die Shakespeares „Sommernachtstraum“ auf die Bühne brachte, zeigt eindrucksvoll den Schulalltag im kreativen Ausnahmezustand: Die Neuntklässler:innen erkunden den Proberaum, debattieren über Szenen, probieren sich an Klavier und Werkbank – und wachsen augenscheinlich an ihren Aufgaben: Selbstbewusster sei sie geworden, so eine der Schülerinnen. Eine andere stellt fest, dass sie an Geduld gewonnen habe. Auch Schulleiterin Renate Riebeling beobachtet einen „enormen Schritt“ in der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Schüler:innen, da sie im Rahmen von „On Stage“ lernten, ein Projekt zu Ende zu führen. Dazu kommen gruppendynamische Effekte für die divers zusammengesetzte Schüler:innenschaft: „Gut, dass der ganze Jahrgang durchmischt war“, findet eine Schülerin und ihre Mitschülerin ist überzeugt, dass der Jahrgang zusammengewachsen ist: „Durch das Theaterstück haben wir uns besser kennengelernt.“
Dass es „On Stage“ an der Schule gibt, wurde durch ihre Teilnahme am Programm „Kreativpotentiale Bremen“, einer Initiative der Senatorin für Kinder und Bildung sowie des Senators für Kultur, gefördert von der Stiftung Mercator, ermöglicht. Das Programm unterstützte die Entwicklung eines eigenen kulturellen Profils, durch das kulturelle Bildung im Schulalltag verankert werden soll. Eine Herausforderung, auch für das Kollegium: Lars Trimborn, Fachbereichsleiter Musik an der Oberschule am Waller Ring, gibt zu, dass es nicht einfach sei, freies Arbeiten in das System Schule zu integrieren. Wenn es dann aber gelinge, profitierten Schüler:innen und Lehrkräfte davon. In der Weiterentwicklung des Profils findet nun auch eine Bindung an den Deutschunterricht statt: Es werden die Stücke auf die Bühne gebracht, die auch Teil der Lektüre im Deutschunterricht des Jahrgangs sind. Dabei wird jeweils eine Adaption des Stücks von den Schüler:innen entwickelt, die ihre Lebenswelt mit einbezieht. Denn bedeutend ist, dass es sich bei „On Stage“ um ein schul-, aber auch um ein stadtteilbezogenes Projekt im Lebensumfeld der Schüler:innen handelt, wie es der künstlerische Leiter Alexander Hauer zusammenfasst: „Hier findet das Leben statt.“
Kooperationen für kulturelle Bildung: „Kulturschwärmer“ und „Theater-JA!“
Kulturelle Bildung an und mit Schulen unter Einbeziehung ihrer jeweiligen Umgebung – dieses Konzept findet sich häufig in Bremen. Die Senatorin für Kinder und Bildung fördert seit den 1990er-Jahren Wettbewerbe, Veranstaltungsformate und Maßnahmen kultureller Bildung an Schulen und im frühkindlichen Bereich.
Eine der neueren Initiativen ist der Zertifikatskurs „Künstlerische Intervention in Schule“ 2022/23, der von der Senatorin für Kinder und Bildung in Kooperation mit dem Senator für Kultur durchgeführt und von der Stiftung Mercator und dem Landesprogramm Schüler:innen stärken gefördert wird. Das Qualifizierungsangebot für Künstler:innen zielt darauf ab, deren spezifische Erfahrungen für kulturelle Bildung in Schulen und Kindertageseinrichtungen zu nutzen. Der erste Kurs endet mit der feierlichen Zertifikatsübergabe im Juli 2023.
Bereits länger etabliert sind die sogenannten „Partnerschul-Programme“ mit fest vereinbarten Kooperationen zwischen Schulen und Kulturinstitutionen wie Museen, Theatern, Orchestern und weiteren kulturellen Einrichtungen. Zu diesen gehört das Projekt „Kulturschwärmer“ der Oberschule am Leibnizplatz in Kooperation mit der bremer shakespeare company, die seit 1989 auf dem Schulcampus beheimatet ist und dort ein eigenes Gebäude bespielt. Schauspieler:innen des Ensembles erarbeiten dabei mit Schüler:innen künstlerische Ausdrucksmittel zu einem bestimmten Thema und präsentieren sie auf der Theaterbühne.
Auch das theaterpädagogische Pilotprojekt „Theater-JA!“ von Stadttheater und Schulamt Bremerhaven, das im Schuljahr 2018/19 gestartet ist, will Kindern und Jugendlichen aus allen Teilen der Stadt die Begegnung mit der Kunstform Theater ermöglichen. Im Rahmen des Projekts unterrichten Theaterpädagog:innen in jedem Schuljahr an bis zu sechs Bremerhavener Partnerschulen Theater und Musik im Umfang von zwei bis vier Wochenstunden, ergänzt durch gemeinsam besuchte Vorstellungen, Proben und Führungen am Stadttheater Bremerhaven.
Kulturelle Bildung in der Stadt und im Quartier
Projekte der kulturellen Bildung dort gestalten, wo ihre Adressat:innen leben: In diesem Sinne konzipiert auch die vom Senator für Kultur geförderte Quartier gGmbH Angebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft. Ihre jährlichen „Kinderkulturprojekte“ haben sich bereits als fester Bestandteil der Bremer Kulturlandschaft etabliert. Mit diesen werden junge Menschen aus ganz Bremen dazu ermutigt, „kinderkulturelles Neuland“ zu betreten - etwa, indem sie Museen des Landes „entern“. Im Jahr 2019/20 gingen 500 Kinder und Jugendliche auf Entdeckungsreise durch das Weserburg Museum für moderne Kunst und durch Bremer und Bremerhavener Stadtteile und nutzten diese als Inspiration für eine eigene „gefaltete Stadt“ aus recyceltem Papier.
Gelebte Teilhabe: Kulturelle Bildungspartner:innen für Schule und Stadtteil
Die Dichte an Kultureinrichtungen und -angeboten innerhalb des „Zwei-Städte-Staats“ kommt seinem Angebot an kultureller Bildung zugute: Die meisten der Kulturinstitutionen in Bremen und Bremerhaven verfügen über Vermittlungsangebote und verstehen sich als außerschulische Lernorte – teils mit langer Tradition, wie das seit den 1970er-Jahren bestehende und heute am Theater Bremen angesiedelte MoKS-Theater (ehem. Modellversuch Künstler und Schule), das mit den Jungen Akteuren zudem über eine eigene, bundesweit einzigartige Theaterschule verfügt (https://www.theaterbremen.de/de_DE/junges-theater)
Aber auch an anderen Orten hat sich ein vielfältiges Angebot etabliert: Die Kunsthalle Bremen etwa bietet Kunstprojekte für bremische und explizit auch für geflüchtete Jugendliche, Führungen für sehbehinderte und sehende Besucher:innen, mehrsprachige Formate mit Akteur:innen unterschiedlicher Herkunft und – wiederum – verschiedene Schul- und Kita-Programme.
Mit Angeboten wie der „Musikwerkstatt“ sowie mit Familien- und Schulkonzerten konnten die Bremer Philharmoniker allein in der Spielzeit 2018/19 über 1.900 Kinder und Jugendliche die Freude an Tönen, Klängen und Rhythmen der klassischen Musik entdecken lassen.
Zu überregionaler Bekanntheit hat es die Kooperation der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen mit der Gesamtschule Bremen-Ost gebracht. Was mit der Suche des Orchesters nach einem neuen Probendomizil begann, führte zu tiefgreifenden Veränderungen für Schule, Orchester und Stadtteil. Nachdem der Proberaum 2007 in der Gesamtschule des von sozialer Ungleichheit geprägten Stadtteils Osterholz-Tenever gefunden wurde, entstand durch unerwartete Synergien zwischen Orchester, Schule und ihrer Nachbarschaft das Modellprojekt einer „Wohngemeinschaft“ von Schule und international agierendem Orchesterbetrieb. Eines der vielen gemeinsamen Projekte ist das „Zukunftslabor“: Darin begegnen sich Schüler:innen und professionelle Musiker:innen im Alltag, etwa, indem Schüler:innen mitten im Orchester Platz nehmen, um eine Probe zu besuchen, oder wenn ein:e Musiker:in die Patenklasse besucht und sich mit den Schüler:innen austauscht.
Einer der Höhepunkte des „Zukunftslabors“ ist die regelmäßig stattfindende Stadtteil-Oper auf dem von Hochhäusern umgebenen „Grünen Hügel“ von Osterholz-Tenever, an der bis zu 600 Menschen beteiligt sind: von den Orchestermusiker:innen über Schüler:innen und Lehrkräfte der Gesamtschule Bremen-Ost bis hin zu freiwilligen Helfer:innen aus Vereinen, Initiativen und der Nachbarschaft des Stadtteils, die bei Logistik und Catering, in der Kostümschneiderei und auf der Bühne mitwirken und in gemeinsam gelebter kultureller Teilhabe die Identität ihres Quartiers bereichern.
Auch hier zeigt sich eine Besonderheit kultureller Bildung in Bremen: gewachsene Kooperationen und langfristige Zusammenarbeit zur Ermöglichung kultureller Teilhabe in der Begegnung von Künsten und Lebenswelten.