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Praxisinterview Baden-Württemberg

Kulturelle Bildung vervielfältigt historische Bildung

Kultur dort organisieren, wo es an Kulturämtern fehlt – das ist die Idee hinter dem Pilotprojekt „Regionalmanager*in Kultur“, welches von 2019 bis 2023 neben fünf weiteren baden-württembergischen Regionen im Landkreis Reutlingen umgesetzt wird. Die Verbindung von Kunst, Kultur, und Geschichte ist dabei ein wichtiger Baustein bei der Schaffung kultureller Bildungsangebote in den ländlichen Räumen des Kreises.

Antje Kochendörfer ist seit April 2020 als Regionalmanagerin Kultur im Landratsamt Reutlingen aktiv. Die studierte Historikerin fördert die Vernetzung kultureller Akteur:innen, schafft neue Räume für Kunst und Kultur und besorgt Drittmittel für eine lebendige, vielfältige Kulturlandschaft. Kulturelle Bildungsangebote in der Region setzt sie mit lokalen Partner:innen um.

Einer davon ist der Historiker und Politikwissenschaftler Thomas Stöckle. Er ist seit 1990 Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, einer von fünf „Euthanasie“-Gedenkstätten im Bundesgebiet, und setzt sich mit einem kleinen Team und großem Netzwerk dafür ein, dass die über 10.000 Opfer der damaligen Tötungsanstalt nicht in Vergessenheit geraten. Angesichts des hohen Interesses hat die Bildungspraxis der Gedenkstätte an Bedeutung gewonnen und wird zunehmend durch Kooperationen mit Künstler:innen mitgestaltet.

Frau Kochendörfer, was ist Ihre Aufgabe als Regionalmanagerin Kultur im Landkreis Reutlingen und was hat Sie daran gereizt, diese Position anzutreten?

Antje Kochendörfer: Ich fungiere als Ansprechpartnerin und „Kümmerin“ für Kunst- und Kulturschaffende im Landkreis Reutlingen. Dabei bin ich als „Meisterin der Zwischenräume“ – ein Zitat von Patrick Föhl, der das Pilotprojekt „Regionalmanager*in Kultur“ wissenschaftlich begleitet hat – eng an der Schnittstelle zwischen Politik, Verwaltung, Kunst- und Kulturszene aktiv und komme mit ganz unterschiedlichen Themen von der Regionalentwicklung über Tourismus bis zur kulturellen Bildung in Berührung. Mein Aufgabenprofil ist entsprechend breit: von der Fördermittelberatung über die Vernetzung von Einzelakteur:innen bis hin zum Veranstaltungs- und Projektmanagement. Die Übersetzungsarbeit zwischen Verwaltung und Kulturszene täglich neu zu gestalten, gefällt mir besonders gut.

Bildungsangebote an der Schnittstelle von Kunst, Kultur und Geschichte

Wie setzen Sie in Ihrem vielfältigen Arbeitsbereich kulturelle Bildung im Landkreis Reutlingen um?

Antje Kochendörfer: Das Kreisarchiv Reutlingen gehört zu den Bildungspartnern Baden-Württemberg im Landkreis Reutlingen, daher bin ich mit meiner Stelle auch Ansprechpartnerin für Kooperationen zwischen Schulen und außerschulischen Bildungspartner:innen. Als Regionalmanagerin Kultur konzipiere ich Veranstaltungen im Bereich kultureller Bildung und baue unsere neue Onlineplattform kultur-machen.de aus, die den Bürger:innen niederschwellige Zugänge zu Angeboten an der Schnittstelle von Kunst, Kultur und Geschichte bietet.

Ein großes Projekt des Landkreises Reutlingen, welches historische und kulturelle Bildung verbindet, besteht in der Ausbildung der Jugendguides. Dabei werden gemeinsam von den Landkreisen Reutlingen und Tübingen Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 23 Jahren darauf vorbereitet, sich für das Erinnern an NS-Verbrechen zu engagieren, indem sie Schulklassen und andere Gruppen bei Stadtrundgängen oder beim Besuch von Gedenkstätten begleiten.

Herr Stöckle, die Gedenkstätte Grafeneck gehört ebenfalls zu den Bildungspartnern Baden-Württemberg im Kreis Reutlingen. Wie sehen Ihre Bildungsangebote aus und wen adressieren sie?

Thomas Stöckle: Gedenkstätten sind multifunktionale Orte: Sie vereinen die Aufgaben Forschung, Dokumentation und Bildung. Zu Beginn standen Forschung und Dokumentation im Mittelpunkt unserer Arbeit; mittlerweile spielt Bildung die Hauptrolle. Wir legen Wert darauf, alle Generationen anzusprechen sowie besondere Zielgruppen wie die allgemeinbildenden Schulen aus dem Landkreis, Pflegeschulen bis hin zu Polizei und Bundeswehr.

Für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung sind Angebote politischer, historischer und kultureller Bildung oft nicht vorgesehen. Vor einigen Jahren haben wir damit begonnen, unser Bildungsangebot so barrierefrei wie möglich zu gestalten. Unter anderem haben wir im Bereich Vermittlung ein Angebot an Seminaren in Leichter Sprache eingeführt, welches sehr gut nachgefragt wird. Wir möchten unsere Besucher:innen weder unterfordern noch unterschätzen.

Kulturelle Bildung im ländlichen Raum: Dauerthema Mobilität

Welche besonderen Herausforderungen begegnen Ihnen in der Kultur- und Bildungsarbeit im ländlichen Raum?

Antje Kochendörfer: Das Mobilitätsangebot ist wohl die größte Herausforderung dabei, Angebote kultureller Bildung im ländlichen Raum zu schaffen und nutzen zu können. Im Landkreis Reutlingen gibt es wenige soziokulturelle Zentren außerhalb der großen Städte; vor allem auf der Schwäbischen Alb sind Angebote spärlich vorhanden.

Wir versuchen, diese Lücke zu füllen, indem wir Partnerschaften wie mit der Gedenkstätte Grafeneck aufbauen. Manchmal müssen wir pragmatisch arbeiten, zum Beispiel durch das Bilden von Fahrgemeinschaften. Eine andere Möglichkeit besteht darin, digitale Lösungen zu schaffen, damit kulturelle Bildungsangebote überhaupt stattfinden können. Diese können jedoch nicht immer den Austausch, den persönlichen Kontakt ersetzen, der gerade für Jugendliche wichtig ist.

Thomas Stöckle: Netzwerke im Landkreis sind für die Gedenkstätte Grafeneck elementar. Da unser Besucher:innenaufkommen seit Gründung der Gedenkstätte von 40 auf 400 Gruppen pro Jahr angewachsen ist, sind wir als kleine Einrichtung mit vier hauptamtlichen Mitarbeiter:innen auf Kooperationen angewiesen. Der Einsatz der Jugendguides, die in der Gedenkstätte nach ihrer „Grundausbildung“ weitergeschult werden, ist in dem Zusammenhang ein wichtiger Baustein unserer Bildungsarbeit. Auch hier ist die Mobilität ein Dauerthema: Die Gedenkstätte Grafeneck ist wie viele Orte im ländlichen Raum ohne Auto schwer zu erreichen, daher bedarf der Einsatz von Jugendguides einer guten Planung.

Offenheit für Formate kultureller Bildung

Wie können die Bereiche kulturelle Bildung, politische und historische Bildung voneinander profitieren?

Thomas Stöckle: Unsere Gedenkstätte hat den Anspruch, Menschen zu erreichen. Das ist über einen breiten Bildungsbegriff, der über die klassische historische Bildung hinausgeht, leichter. Mit einer Kriminalroman-Lesung, einem Kunstprojekt oder einer Vernissage erreichen wir neue Gruppen. Historiker:innen haben im Vergleich zu Künstler:innen einen begrenzten Fundus an Vermittlungsformaten. Insofern finde ich es wichtig, dass unsere Gedenkstätte, die im Kern historisch-politische Bildungsarbeit betreibt, völlig offen für Formate aus anderen Bereichen ist.

Wir haben das Glück, dass Musiker:innen, Schriftsteller:innen, Theatergruppen und bildende Künstler:innen von ganz allein nach Grafeneck kommen, um mit uns zusammenzuarbeiten. Dadurch haben wir festgestellt, dass kulturelle Bildung das Potenzial hat, historische Bildung zu vervielfältigen und zu verbreitern.

Welche Kooperation der Gedenkstätte Grafeneck im Bereich der kulturellen Bildung hat Sie besonders beeindruckt?

Thomas Stöckle: In dem Kunstprojekt 10.654 hat sich ein Künstler mit der Zahl der Todesopfer von Grafeneck auseinandergesetzt. Stellvertretend für die hier ermordeten Menschen wurden 10.654 Terrakottafiguren gebrannt und im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte ausgestellt, bis eine der Glasfronten völlig verdunkelt war. In Kooperation mit einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung wurden Holzsockel für die Figuren hergestellt. So konnten die Figuren einzeln aufgestellt und von Besucher:innen mitgenommen werden. Die Figuren sind dann nach und nach aus Grafeneck verschwunden und in die Städte und Ortschaften gelangt, aus denen die damaligen Opfer der Verbrechen stammten.

Frau Kochendörfer, das Projekt Regionalmanager*in Kultur läuft 2023 aus. Worauf blicken Sie gern zurück und wie geht es weiter?

Antje Kochendörfer: Meine Stelle im Landratsamt wird auch nach Ende des Pilotprojekts bestehen bleiben. Wir konnten in drei Jahren Fördermittel in Höhe von 470.000 Euro für Kunst- und Kulturprojekte akquirieren, was für den Landkreis eine enorme Summe ist. Vor allem aber habe ich gelernt, dass Vernetzung untereinander zentral für die kulturelle Praxis ist – ohne Kooperationen läuft nichts. Es ist schön zu wissen, dass die Arbeit der letzten Jahre weitergeführt werden kann, denn für die regionalen Kunst- und Kulturakteur:innen ist es wichtig, eine Anlaufstelle zu haben.

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