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Eine Fabrik der Solidarität

Interview mit Basil Kerski, Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig

 

November 2024

Das Europäische Solidarność-Zentrum liegt auf einem ehemaligen Werftgelände inmitten der Stadt Danzig, wo im Jahr 1980 aus einer antikommunistischen Streikbewegung heraus mit der „Solidarność“ die erste unabhängige, demokratische Massenorganisation im sowjetischen Machtbereich entstand, die sich die Form einer freien Gewerkschaft gab. Der Sitz des Zentrums wurde im Jahr 2014 als Museum, Erinnerungs- und Begegnungsort gegründet.

In die Dauerausstellung zur Geschichte der Solidarność-Bewegung sind Originalexponate wie das berühmte Transparent mit der Aufschrift „Proletarier aller Betriebe, vereinigt euch!“ und zwei Holztafeln mit den 21 Postulaten der Streikenden aufgenommen, die von der UNESCO als Weltkulturerbe gezählt werden. Das von der Stadt Danzig, dem polnischen Kulturministerium und der Regionalregierung der Woiwodschaft Pomorze mit Unterstützung prominenter Zeitzeuginnen und Zeitzeugen 2007 gegründete Solidarność-Zentrum versteht sich ausdrücklich nicht nur als Museum. Neben den Ausstellungsräumen und der Gastronomie befinden sich dort eine Bibliothek, ein Archiv, mehrere Bildungsräume, ein Spielbereich für Kleinkinder, eine Forschungsabteilung und unter dem Namen „Solidarität im Alltag” Räume für zivilgesellschaftliche Akteure.

Basil Kerski ist seit dem Jahr 2011 Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums. Am 13. November 2024 sprach er mit der MAKURA-Redaktion im Interview.

„Wir haben den Auftrag, über die Vermittlung historischer Ereignisse hinauszugehen, weil Erinnerung eine Orientierung auf dem Weg in die Zukunft geben kann.“

MAKURA: Was macht den Ort besonders, an dem im Jahr 2014 das Europäische Solidarność -Zentrum eröffnet wurde?

Kerski: Wir befinden uns im Stadtzentrum von Danzig, einer alten Hansestadt, wo in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Werft eine urbane Struktur entstand, die an eine Lunge erinnert: Auf der südlichen Seite die mittelalterliche Altstadt, im Norden Richtung Ostsee Industrie und Schiffsbau. Seit 170 Jahren kommt es hier zum Austausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern der Stadt und den riesengroßen Industriekomplexen. Von Anfang an ging es hier hoch politisch zu, vor allem wegen des militärischen Schiffbaus im Ersten und Zweiten Weltkrieg.

Hier auf dem Gelände der Werft ist vor fast 45 Jahren die Bürgerbewegung Solidarność gegründet worden – ganz bewusst über einen Streik, der an einen Betrieb gebunden war und dort auch örtlich blieb; hinter den Toren. Die Streikenden wollten nicht auf die Straße gehen und ein Blutvergießen riskieren. Die Werft wurde wie eine Agora genutzt: ein unabhängiger und geschützter Ort des Diskurses. Daraus entstand nicht nur eine Gewerkschaft, sondern auch die größte demokratische Organisation im östlichen Mitteleuropa mit 10 Millionen eingetragenen, beitragszahlenden Mitgliedern im kommunistischen System. Es war die einzige legale Organisation, die das Machtmonopol des Systems in Frage gestellt hat. Und diese Bewegung hat innerhalb von 9 Jahren, zwischen 1980 und 1989, Polen und damit Mittelosteuropa verändert. Solidarność arbeitete eng mit westlichen Medien zusammen. Vor allem über das Fernsehen und das Radio der Bundesrepublik wurden die Menschen in der DDR bestens über die Solidarność-Revolution informiert. Vor allem die Gespräche zwischen den Machthabern und der Solidarność am Runden Tisch im Frühjahr 1989 in Warschau und die daraus folgenden Wahlen in Polen am 4. Juni 1989 inspirierten die Menschen in der DDR zum offenen Protest gegen das SED-Regime. Im Dezember 1989 koordinierte dann auch in der DDR ein Runder Tisch den Übergang von der Diktatur zu demokratischen Wahlen. Diese Bedeutung der Solidarność als Inspiration für die Revolution in der DDR ist leider heute in Deutschland weitgehend vergessen.

Wie ist Ihr Auftrag?

Während hier in unserer Nähe weiterhin Schiffe gebaut werden, so zum Beispiel in der polnischen Remontowa-Werft mit 8.000 Angestellten, erzählen wir die Geschichte dieses Ortes und der Solidarność-Bewegung museal, um einen Erinnerungsort und Ort des politischen Dialogs über die Gegenwart zu schaffen. Übrigens mit Bezügen zur Erinnerung an alle mutigen Frauen und Männer, die nicht nur Polen, sondern Mittel-  und Osteuropa verändert haben – unsere Dauerausstellung widmet sich Revolutions- und Freiheitsbewegungen von der ehemaligen DDR bis zur Sowjetunion, von den baltischen Staaten bis hin zu Albanien.

Wir haben den Auftrag, über die Vermittlung historischer Ereignisse hinauszugehen, weil Erinnerung eine Orientierung auf dem Weg in die Zukunft geben kann. Für uns geht es um die Sicherung der Demokratie und zwar im Hinblick auf zwei Ziele, die auch in unserem Leitbild festgehalten sind: Erstens wollen wir einen modernen Solidaritätsbegriff vermitteln, der auf den universellen Menschenrechten basiert. Demokratie und Freiheit kann nur gesichert werden, wenn die Solidarität mit anderen gegeben ist, also auch mit Minderheiten und Gruppen, mit denen wir nicht unmittelbar Interessen teilen. Zweitens ist es unser erklärtes Ziel zu vermitteln, dass wir als national verfasster, demokratischer Staat mit anderen Staaten solidarisch sein müssen und auch auf die Solidarität anderer angewiesen sind, um Wohlstand und Sicherheit zu gewährleisten. Einen politisch organisierten Rahmen der Solidarität bietet die Europäische Union.

Wenn wir heute hier bei uns von Demokratie sprechen, dann meinen wir viel mehr als Pluralismus, Meinungsäußerung und Gewaltenteilung. Es geht uns um die Demokratie, die nach den Verbrechen des totalitären Zeitalters auf einer solidarischen Idee basiert, die mit der Idee der universellen Menschenrechte verknüpft ist. Solidarität wollen wir nicht auf eine Gruppe, eine Ethnie oder eine Nation begrenzen. Die universellen Menschenrechte sind die Basis für eine solidarische Demokratie.

Und da sind wir schon mittendrin in all den Konflikten unserer Zeit, egal ob wir auf autoritäre Regime oder die westlichen Demokratien blicken. Wir erleben zurzeit in Europa Debatten über Migrantinnen und Migranten, in denen die Einschränkung, gar Aussetzung des Asylrechts gefordert wird. Das ist ein klares populistisches Vorgehen gegen die Menschenrechte. Wir als Solidaritäts-Zentrum, und nicht nur als Museum der Zivilgesellschaft, sollen laut unseren Statuten auch als eine Kontroll- und Kritikinstanz der demokratischen Wirklichkeit agieren; und zwar nicht nur der Polens – auch in Europa. Diesen Auftrag nehmen wir sehr ernst und haben uns in den letzten Jahren stark gegen autoritäre, nationalistische und populistische Politik engagiert.  

Wer kommt zu Ihnen und welche Bedeutung hat das Museum für Ihre Besucherinnen und Besucher?

Der polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Baumann hat einmal gesagt, dass im Industriezeitalter große Betriebe wie zum Beispiel Werften „Fabriken der Solidarität“ gewesen seien. In der Danziger Leninwerft arbeiteten 17.000 Menschen unterschiedlicher Kompetenzen zusammen. Arbeiter, Ingenieure, Designer, es gab Krankenhäuser und Schulen auf dem Werftgelände. Menschen entwickelten im Betrieb Respekt für einander. Sie übten in der Zusammenarbeit die Solidarität. Auf dieser Alltagserfahrung basierte dann die politische Solidarität. Baumanns Interpretation ist auch inspirierend für uns als Kultureinrichtung. Wir wollen Menschen zusammenbringen und im Dialog Respekt und Solidarität gegenüber dem Anderen stärken. Über eine Million Menschen besuchen uns im Jahr. Wir sind damit ein kultureller Großbetrieb. Hoffentlich nehmen uns die Menschen als einen Ort wahr, in dem die Erfahrung der Solidarität vermehrt wird.  Wir sind eine öffentliche Einrichtung und arbeiten im öffentlichen Auftrag. Wir dienen allen Menschen, aber sie müssen die allgemeinen Menschenrechte achten.

Das Prägnante des Hauses ist die Agora im Inneren. Es ist ein offener Bereich, wo wir unsere Veranstaltungen organisieren. Ich sehe es so: Die Agora, die 1980 als Ort des Streiks und der freien Meinungsäußerung in der Werft gegründet wurde, ist hier übersetzt in eine neue, zeitgemäße Form. Sie ist geschützt von einem geschlossenen Gebäude, das aber jeden Tag von morgens bis abends geöffnet ist. Zu uns kommen vor allem Menschen, die gesellschaftlich engagiert sind. Und wir sind natürlich auch eine touristische Attraktion.

Tatsächlich sind wir zunehmend auch ein Ort, der Menschen aus der ganzen Welt anzieht, die unsere Ideen unterstützen. Für Menschen aus Deutschland, der Ukraine, den USA, für Exilanten aus China und Belarus repräsentiert unser Haus auch das eigene politisch-historische Erbe. Dadurch sind wir ein sehr internationales Zentrum geworden.

Wir sind ebenfalls ein Ort der Inspiration und des Asyls für Menschen, die stark von politischen Krisen oder Legitimationskrisen der Demokratie in ihren Ländern und Gemeinschaften betroffen sind. Und damit meine ich nicht nur die Extremsituationen der Kriege wie in der Ukraine oder der Diktatur wie in Belarus, sondern auch eine Legitimationskrise der Demokratie, wie wir sie derzeit in vielen Ländern beobachten.

„Grundsätzlich sind wir dafür kritisiert worden, dass wir universelle Menschenrechte über nationalistische Politik stellen.“

Im Jahr 2019 erregte das Europäische Solidarność-Zentrum internationale Aufmerksamkeit, als die Zentralregierung Polens Einfluss auf ihr Programm und die Dauerausstellung nehmen wollte. Sie haben dies abgelehnt mit der Folge, dass Zuwendungen erheblich gekürzt wurden. Diese konnten nur mit einer landesweiten Spendenaktion ausgeglichen werden. Ihre Gestaltungsfreiheit und Deutungshoheit als unabhängiges Zentrum war zwischenzeitlich bedroht. Woher kam Unterstützung und was haben Sie in dieser Zeit gelernt?

In Polen hatten wir acht Jahre lang (November 2015 bis Dezember 2023; Anm. D. Red.) eine autoritäre, nationalistische Regierung und das Europäische Solidarność-Zentrum war Spannungen ausgesetzt, wie sie wertbetonte Einrichtungen in einigen anderen Ländern Europas auch gut kennen. Da sind wir sicher nicht alleine.

Nationalistische Bewegungen tendieren zur Zentralisierung von Macht und stellen das Subsidiaritätsprinzip in Frage, welches kommunalen und regionalen Behörden und Einrichtungen ein großes Maß an Unabhängigkeit sichert. Sie agieren in der Regel gegen eine starke Selbstverwaltung der Kommunen und der Regionen und auch gegen Europa, weil Europa eine Kontrollinstanz für sie ist.

Da gab es sehr viele Angriffsflächen uns gegenüber, weil wir für universelle Menschenrechte, die offene Gesellschaft, für Multikulturalität, das Subsidiaritätsprinzip und Solidarität in Europa stehen. Grundsätzlich sind wir dafür kritisiert worden, dass wir universelle Menschenrechte über nationalistische Politik stellen. Wir sagen: Sicherheit und Wohlstand von Nationen lassen sich nur nachhaltig sichern, wenn es ein starkes System internationaler Solidarität gibt, wenn Nationalstaaten respektvoll zusammenarbeiten. Nationalismus führt zu Isolation, zu Misstrauen zwischen den Nationen, nationalistischer Egoismus führt zu Konflikten.

Hinzu kommt, dass autoritäre Parteien in allen Ländern ihr historisches Narrativ entwickeln und Mythen bilden, um eine neue Legitimation für bestimmte Machtverhältnisse und Systeme zu schaffen. Und davon sind Historikerinnen und Historiker wie auch die Museen, in denen sie tätig sind, sehr stark betroffen. Insbesondere dann, wenn sie der Einflussnahme im Wege stehen und für sich in Anspruch nehmen, objektiv auf einer wissenschaftlichen Argumentation zu bauen und in diesem Sinne am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Da wir Schlüsseldaten der jüngsten polnischen Geschichte vertreten, waren wir Ziel der Angriffe, die sich dann u.a. in der Kürzung öffentlicher Mittel ausdrückten.

Ein starkes zivilgesellschaftliches Bündnis stand hinter Ihnen....

Als die Idee zu einem Erinnerungsort der Solidarność-Bewegung vor 17 Jahren greifbar wurde, lebten die meisten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Solidarność-Revolution, weswegen wir es mit einer lebendigen Erinnerungskultur zu tun haben. Sie bedeutet viele Emotionen, ein Pluralismus der individuellen Erfahrungen und sehr viele Sichtweisen. Diese Mischung hat es uns einerseits nicht leichtgemacht, die Geschichte durch Wissenschaft zu objektivieren. Andererseits haben sich die wichtigsten Protagonisten, wie beispielsweise Lech Wałęsa, Gewerkschaftsführer der Solidarność, Friedensnobelpreisträger und von 1990 bis 1995 Präsident von Polen, in den letzten Jahren gegen neue Geschichtsmythen, Geschichtsverfälschung und gegen autoritäre Tendenzen gestellt. Damit halfen sie ganz wesentlich, einer Instrumentalisierung der Geschichte entgegen zu wirken.

Die zivilgesellschaftliche Bewegung umfasste dabei aber mehrere Generationen. Die Akteure der Revolutionsjahre zwischen 1980 und 1989 wie Wałęsa trafen sich mit 20- bis 30jährigen und fanden Räume in vielen Kultureinrichtungen. Museen, Theater und Bibliotheken wurden zu wichtigen Orten für zivilgesellschaftlichen Widerstand in Polen.

„Wir haben es zurzeit in Polen mit einer sehr wachen Generation von Menschen zu tun, die nach 1989 geboren wurde. Die Ereignisse aus den Jahren 1980 bis 1989 sind für sie abstrakt, nicht aber die Werte.“

Wie ist es aktuell?

Jede Kultureinrichtung, die nicht nur eine Unterhaltungs-Einrichtung sein will, gerät in Bereiche politischer Auseinandersetzung, auch unter liberalen Regierungen. Ich erlebe das zurzeit in der Frage der Asylpolitik. Sie wissen, Polen sichert massiv seine Grenze zu Belarus. Der liberale polnische Premierminister, einer der Leader der antinationalistischen, antiautoritären Bewegung, hat sich dafür ausgesprochen, das Recht auf Asyl an unserer polnischen Ostgrenze auszusetzen. Das können wir schwer annehmen. Da entstehen Spannungen zu unseren Werten und den Botschaften, die wir als Haus an unsere Gäste aussenden; daher versuchen wir, auch diese Spannungen in unseren Programmen zu thematisieren.  

Was sagt Ihr Solidaritätsbegriff jungen Menschen heute?

Erst seit genau 10 Jahren existiert unser Haus als eine sichtbare Agora. Bis zur Eröffnung des Sitzes des Solidarność-Zentrums haben wir an verschiedenen Orten Projekte organisiert; und zwar ohne die Symbolik des Hauses am Geburtsort der Solidarność-Bewegung in der Werft und ohne die Attraktivität eines Raumes, der Menschen zusammenführt und neugierig macht. Das war schwer. Dann, bei der Eröffnung im Sommer 2014 haben alle Menschen gesehen, dass es ein Raum ist, den sie selber füllen können. Das wichtigste ist, den jungen Menschen ihre Stimme zu geben. Bei uns sind alle Bürgerinnen und Bürger, keine Kulturkonsumenten. Wir beginnen schon mit Einjährigen und haben einen Bereich zum Spielen – es ist ein Bildungsort und führt alle Kinder in die Kultureinrichtung ein.

Die Jugendlichen entwickeln mit uns in Begleitung ihre Projekte. Uns hat überrascht, dass sich in den letzten Jahren viele junge Aktivisten in der Geschichte wiederentdeckt haben. Das, wofür die Großeltern und Eltern gekämpft haben, eine gewaltfreie Revolution für Demokratie, Gewaltenteilung und Menschenrechte, erkennen sie als Wunsch in sich und fühlen sich als Teil einer demokratischen Tradition. So haben Sie sich unter anderem der Symbole bemächtigt; das Solidarność-Logo in Regenbogenfarben gegen Homophobie zum Beispiel.

Wir haben es zurzeit in Polen mit einer sehr wachen Generation von Menschen zu tun, die nach 1989 geboren wurde. Die Ereignisse aus den Jahren 1980 bis 1989 sind für sie abstrakt, nicht aber die Werte. Die jungen Leute sind unheimlich politisiert worden; durch die autoritäre PiS-Politik, die versuchte Zerstörung der Rechtstaatlichkeit durch Populisten, nicht zuletzt durch den Krieg im unmittelbaren Nachbarland, in der Ukraine. Der Krieg provoziert ein Wiederaufleben alter Traumata, die alle Menschen in Polen verstehen, alle. Der Angriffskrieg war ein Schock. Ich dachte, es wäre der Ukraine-Krieg, der uns als Europäer zusammenführt, aber die europäischen Gesellschaften sind sehr polarisiert – manche werden aktiv, andere fliehen aber auch in die Passivität.

Ich beobachte, dass ein kultureller Konsens bröckelt, beispielsweise die Überzeugung, dass Gewalt schlecht ist, dass ein pluralistisches, soziales Miteinander und Chancengerechtigkeit die Gesellschaft weiterbringen. Viele haben den Anschluss an demokratische Traditionen verloren. Deswegen müssen gerade junge Menschen demokratische Grundwerte neu erleben können.

Was schwierig ist – und das ist, glaube ich, ein Problem europäischer Museen, das ist der unmittelbare Auftrag zur Wissensvermittlung, insbesondere der europäischen Geschichte. Wir arbeiten mit Schulen und Lehrkräften zusammen und sehen eine große Leerstelle zwischen dem, was wir als Museum anbieten können und dem, was im Bildung- und Lehrprogramm enthalten ist. Ich habe den Eindruck, dass unser Blick zeitgemäßer und europäischer ist als die Lehrpläne, die eher regional und national gefasst sind. Das beobachte ich auch in Deutschland. Da sind wir als Museen oft Rettungsteams in einer Bildungskrise.

„In der Kultur kann der abstrakte Begriff der Solidarität ganz konkret werden.“

Wo liegen aus Ihrer Sicht die Ressourcen der Kultur für ein demokratisches Miteinander?

Letzte Woche haben wir in Berlin Jugendliche aus Frankreich, Deutschland, Norwegen und Polen zum Thema Mauerfall zusammengebracht. Wieder wurde mir dabei deutlich, was für eine enorme Wirkung Mobilität, die unmittelbare Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Ländern erzeugt. Alle Menschen sollten unabhängig von ihrem Status und den Möglichkeiten ihrer Familien und unabhängig von ihren körperlichen Möglichkeiten die Chance bekommen, andere Kulturen kennenzulernen und sich ein eigenes Bild zu machen. Das meine ich nicht naiv: Nicht jede internationale Begegnung bringt automatisch Positives mit sich. Aber wenn wir negative Vorurteile im direkten Dialog bestätigt sehen, dann sind sie immerhin konkret. Wir können sie ansprechen und einem Rückzug entgegenwirken. Jede intensive, kompetent begleitete Begegnung mit anderen ist für einzelne Menschen eine prägende Erfahrung, schafft Bildungskapital für die Zukunft.

Was ist der spezifische Beitrag der Kultur dabei?

Kultur ist für mich etwas, das Gemeinschaft kreiert. In der Kultur kann der abstrakte Begriff der Solidarität ganz konkret werden. Wir möchten Menschen dabei begleiten, ihre Sensibilität für die Welt zu pflegen und zu entwickeln. Daher sind uns kulturelle Techniken und die sinnliche Erfahrung im Bereich der politischen und zivilgesellschaftlichen Bildung wichtig. Künstlerinnen und Künstler, die daran interessiert sind, die Bedeutung freiheitlich-demokratischer Werte zu vermitteln und die den Spirit einer globalen Solidarität mitbringen, sind bei uns eingeladen.

Eines unserer größten Formate beispielsweise ist das Filmfestival „All about freedom“. Dort lief in diesem Herbst der beeindruckende palästinensisch-norwegische Dokumentarfilm „No other Land“ über den Nahost-Konflikt, in dem Empathie zwischen jungen israelischen und palästinensischen Bürgerrechtlern gesiegt hat. Nach dem Film begegnete unser Publikum dem Israeli Rami Elhanan und dem Palästinenser Bassam Aramin. Sie sprachen über ihre Freundschaft über die politischen Grenzen hinaus, über den Verlust ihrer gewaltsam getöteten Kinder, über den Dialog zwischen Moslems und Juden und über Chancen der Versöhnung. Der Film und die Debatte werden leider Israel und Palästina nicht verändern. Wohl aber setzen solche Kulturprojekte dem Nihilismus etwas entgegen, der uns so einfach erreichen kann, in dieser von Konflikten zerrütteten Welt. Er gibt Hoffnung, aber keine falsche, keine ideologische Hoffnung. Es ist eine Hoffnung, die aus der Erfahrung von Menschlichkeit entsteht.  

Vielen Dank für das Gespräch, lieber Herr Kerski!

„Es geht uns um die Demokratie, die nach den Verbrechen des totalitären Zeitalters auf einer solidarischen Idee basiert.“
Basil Kerski
Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig

Basil Kerski ist ein deutsch-polnischer Kulturmanager, Ausstellungskurator, Redakteur, Publizist und Politikexperte. Seit 2011 leitet er als Direktor in seiner Geburtsstadt Danzig das Europäische Solidarność-Zentrum, ein Museum sowie Forum des politischen und kulturellen Dialogs von internationaler Ausstrahlung.

Im Januar 2025 wurde er zum Präsidenten der Stiftung Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen gewählt. Er wird Anfang 2026 die Leitung der Stiftung übernehmen. Im Jahr 2030 soll im umgebauten Behrensbau in Düsseldorf, direkt am Rhein, eine Dauerausstellung zur Geschichte des Landes in nationalem und internationalem Kontext eröffnet werden.

Für sein öffentliches Engagement wurde Basil Kerski vielfach ausgezeichnet, zuletzt 2022 durch den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron mit dem Orden der Ehrenlegion. Basil Kerski lebt in Berlin und Danzig.