Digitalisierung zum Anfassen
Ein Waldmistkäfer ermöglicht barrierefreies Museumserleben
August 2025
In diesem INSPIRE stellen wir uns als Redaktion die Frage, welche Chancen sich mithilfe von intelligenten Systemen wie künstlicher Intelligenz (KI) oder maschinellem Lernen für die kulturelle Teilhabe eröffnen. Dabei ist oft die Rede von dem Versuch, mittels innovativer technischer Systeme barrierearme Zugänge zu den Inhalten, Themen und Objekten von Museen zu schaffen. Bloß wie kann das praktisch aussehen?
Tina Schneider von Mediasphere For Nature, das Lab für digitale Medien des Museums für Naturkunde Berlin, beschäftigt sich mit der Frage, wie die digitalen Medien des Museums innovativ nachgenutzt werden können, um so Themen wie z.B. Barrierefreiheit zu adressieren. Im Zuge dieser Überlegungen entwickelte sie gemeinsam mit den Modellbauer:innen der Werkstatt werk5 in Berlin ein responsives Tastmodell nach der Vorlage eines Waldmistkäfers aus der Museumssammlung. Gunnar Bloss blickt als Geschäftsführer von werk5 bereits auf eine 30-jährige Geschichte im Modell- und Exponatebau zurück. Gemeinsam mit der Projektleiterin Eva Waldherr initiierte er zuletzt das TALE (Taktiles Lernen) Marktreifeprojekt für inklusive Tastexponate, dessen Konzept bereits mit einem 3. Platz beim delina learntec Award 2023 Erfolg hatte.
MAKURA: An welcher Schnittstelle kommt die Arbeit des Museums für Naturkunde und werk5 zusammen?
Tina Schneider: Während des gesamten Entstehungsprozesses standen das Museum für Naturkunde und werk5 in direktem Austausch miteinander und einzelne Entwicklungsschritte erfolgten in enger Abstimmung – somit kann man eher von einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit als von vereinzelten Schnittstellen sprechen. Es gab jedoch Bereiche, die selbständig erarbeitet wurden. Hierzu gehört die Digitalisierung des Käfermodells sowie die Entwicklung und wissenschaftliche Prüfung der Audiotexte, welche auf Seiten des Museums platziert waren. Die technische Evolution des Tastmodells inklusive Modellbau, Materialtests, CMS-System-Entwicklung etc. lag in den Händen von werk5.
Was zeichnet den responsiven Tastkäfer aus und was kann er?
Der responsive Tastkäfer ist inklusiv konzipiert und kann sowohl von Menschen mit als auch von Menschen ohne Sehbeeinträchtigung gleichermaßen genutzt werden. Das Käfermodell ist innen hohl und mit Sensoren ausgestattet. Wenn man das Tastmodell berührt, erkennt es, wo es berührt wird und kann genau zu diesem Bereich Audioinhalte abspielen. Berührt man etwa den Kopf, so werden Informationen zu Mundwerkzeugen und Nahrung abgespielt. Berührt man die Beine, erfährt man, wie der Käfer seine Beine beim Tunnelbau einsetzt.
Wenn man seine Hände vom jeweils aktivierten Audiobereich entfernt, so wird das Audio leiser. Dadurch erkennt die tastende Person, dass sie sich nun nicht mehr im Bereich befindet, zu dem sie gerade Audioinhalte anhört. Gehen die Hände zurück zum aktivierten Bereich, wird das Audio wieder lauter. Dies ist für blinde Personen ein zentraler Hinweis. Die Bereichserkennung und andere Features des Tastmodells haben wir in enger Zusammenarbeit mit einer Fokusgruppe von blinden und sehbeeinträchtigten Menschen erarbeitet. Die Fokusgruppe hat uns Feedback und Optimierungsvorschläge geliefert, was sehr hilfreich war.
Wie kam es zum Projekt, wie kommt der Käfer zum Einsatz und welchen Beitrag leistet er zur Barrierefreiheit im Museum?
Für die Entwicklung des Käfer-Tastmodells gab es mehrere Inspirationsquellen. Zum einen hatten wir mit werk5 bereits ein einfaches Krokodil-Tastmodell umgesetzt. Dies war technisch bei weitem noch nicht so ausgefeilt, wurde jedoch äußerst positiv aufgenommen und hat uns gezeigt wie viel Potential hinter der Idee „responsives Tastobjekt“ steckt. Zum anderen gab es am Museum für Naturkunde zum Zeitpunkt der Käferentwicklung gerade die Ausstellung „digitize!“ zu sehen, bei der Besuchende die Massendigitalisierung von Insekten bei uns im Haus live mit beobachten konnten. Somit lag es für mich nahe, aus unserem Lab „Mediasphere For Nature“ heraus ein innovatives Projekt rund um ein Insekten-Digitalisat anzustoßen. Eine weitere große Inspirationsquelle waren darüber hinaus die am Museum durch die Bildungsabteilung angebotenen Tast-Erlebnistouren für blinde und sehbehinderte Gäste. Hier konnten Besuchende nach Museumsschluss in Ruhe Objekte wie Fossilien oder Straußeneier ertasten. Unser Gedanke war, diese Touren durch ein Objekt zu ergänzen, das vollkommen selbständig erkundet werden kann.
Darüber hinaus kommt das Tastkäfer-Modell in-house bei Sonderveranstaltungen zum Einsatz, z.B. bei der Langen Nacht der Museen. Auch konnten wir das Modell schon auf zahlreichen Messen präsentieren, unter anderem auf der MUTEC Fachmesse für Museums- und Ausstellungstechnik. Mitte September wird das Modell auf der Inclusive Museum Konferenz in Spanien einem internationalen Fachpublikum vorgestellt und dort hoffentlich bei anderen Institutionen Anreize für neue Entwicklungen im Bereich Barrierefreiheit anstoßen.
Worin unterscheidet sich die Wirkung des Objekts im Unterschied zu anderen Tastmodellen?
Die meisten Tastmodelle verfügen über keine Audiokomponente. Das heißt, man ertastet das Objekt und muss auf der Tastfläche daneben die Schrift lesen. Oder wenn das Objekt mit Audio ausgestattet ist, so kommt meist nur ein allgemeiner Audiotext, der Informationen zum gesamten Objekt abspielt.
Im Unterschied zu gewöhnlichen Tastmodellen liefert dieses responsive Käfermodell zielgerichtet Inhalte: berührt man die Flügel, gibt es Audiofeedback zu den Flügeln, berührt man den Kopf, gibt es Informationen zum Kopfbereich zu hören. Blinde und sehbeeinträchtigte Menschen können das Modell dadurch komplett selbständig und nach freier Zeiteinteilung erkunden. Wir wollten hier vor allem die Selbständigkeit ermöglichen, die bei Erkunden von einfachen Tastmodellen oft nicht gegeben ist, da man hier für Rückfragen wiederum auf die Hinweise von Begleitpersonen oder sogar Fachpersonal angewiesen ist.
Darüber hinaus verfügt das Käfermodell auf seiner, unter dem Käfer liegenden Tastfläche neben der Schwarzschrift (für sehende Menschen) über zwei Blindenschriften: Brailleschrift, die meist von geburtsblinden Menschen gelesen wird sowie Reliefschrift, die oftmals von Menschen gelesen wird, die im späteren Leben erblinden. Dies hat sich bereits etabliert.
Das inklusive Design des responsiven Waldmistkäfers steht beispielhaft für eine neue Form der Wissensvermittlung, die besonders einprägsam ist. Dies gelingt durch die gezielte Verknüpfung visueller, auditiver und taktiler Informationen, wodurch das sogenannte Zwei-Sinne-Prinzip zur Anwendung kommt. Dieses Prinzip ist ein zentraler Bestandteil barrierefreier Gestaltung und verfolgt das Ziel, Informationen so aufzubereiten, dass sie von möglichst vielen Menschen, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, wahrgenommen werden können. Es stellt sicher, dass wichtige Inhalte nicht nur auf einem einzigen Sinneskanal basieren. So können z.B. Menschen mit Sehbeeinträchtigungen dennoch Zugang zu relevanten Informationen erhalten. Auch trägt das Prinzip zur besseren Teilhabe am öffentlichen Leben bei.
Dabei profitieren nicht nur Menschen mit Einschränkungen. Das Zwei-Sinne-Prinzip berücksichtigt auch unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten und persönliche Vorlieben. Viele Menschen bevorzugen es etwa, sich Audiotexte anzuhören, während andere lieber visuell erkunden. Die Umsetzung dieses Prinzips verbessert somit nicht nur die Barrierefreiheit, sondern auch die Qualität und Effizienz der Informationsvermittlung insgesamt. Es zeigt, wie inklusives Design allen Menschen zugutekommt – durch mehr Zugänglichkeit und Flexibilität.


Daher wurden im Museum durch den Digitalisierungsexperten Bernhard Schurian hochaufgelöste Aufnahmen des Käfers erstellt. Diese wurden vom Modellbau-Team zum perfekten Nachbau der Oberfläche des Käfers benötigt. Links außen im Bild ist unter der senkrecht angeordneten Kameralinse ganz klein der Käfer zu sehen.



