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Kultur:Labor Thüringen

Personen basteln am Tisch

Das Schloss Tonna, genannt Kettenburg, ist ein markanter Punkt in der gleichnamigen Gemeinde im Landkreis Gotha und hat eine rund 1.000-jährige, bewegte Geschichte hinter sich: Einst Sitz der Grafen von Gleichen und Tonna, wechselte es mehrfach Besitzer und Funktion. Seit dem letzten Verkauf wurde die langsam verfallende Kettenburg lange nicht betreten: Für die Anwohner:innen in Tonna ist sie eine steinerne Black Box, aus Sicht mancher sogar ein „Lost Place“, der ihnen im Ortskern täglich buchstäblich vor Augen steht.

Kreative Aneignung eines „Lost Place“ per Audiowalk

Auch die Neuntklässler:innen der Gemeinschaftsschule Tonna haben die Kettenburg nie tatsächlich von innen gesehen. Dennoch kennen sie sich bestens mit ihrer Architektur und ihrer Geschichte aus. Für den fiktiven Radiosender „Antenne Tonna“, online abrufbar, führten sie im Mai 2022 Interviews zur ambivalenten Geschichte des Gebäudes mit seinen verschiedenen Nutzungsphasen: mit dessen Erstbezieher Graf Erwin I., mit dem auf Pestbekämpfung spezialisierten Pfarrer Eckelt, dem DDR-Republikflüchtling Klaus Gold, der Zwangsarbeit im Schloss verrichtete, und einem Schweizer Investor, der sich durch den Kauf der Kettenburg Gewinne erhoffte. Verkörpert wurden alle Interviewten von Mitschüler:innen, die den Zeitzeugen ihre Stimme liehen.

Herausgekommen ist ein vierteiliger Audiowalk, der, begleitet von den Radiokünstler:innen Francis Kamprath und Mara May, zu einer Reise durch die Vergangenheit der Kettenburg einlädt. Die Hosts von „Antenne Tonna“ aktivieren das Kopfkino ihrer Hörer:innen: Sie leiten sie per GPS und Smartphone-App auf einem tatsächlichen Spaziergang um das Schloss herum, und dadurch in Fantasie auch in das Schloss hinein, führen durch die materialisierten Spuren der Zeit mit ihren baulichen Veränderungen und Verfallserscheinungen und lassen so das Innenleben und die Geschichte der Kettenburg sichtbar und lebendig werden. Residenzkultur, DDR-Geschichte, Leerstand – die Schüler:innen nehmen die Zuhörerschaft so spielerisch in Themen mit hinein, die für viele Thüringer:innen durchaus lebensweltnah sind.

Aufsuchende Kulturarbeit: Kulturerbe trifft Alltagskultur

Der Audiowalk ist Teil des Projekts „Kultur:Labor Thüringen“, welches von 2021 bis 2022 unter Trägerschaft der Klassik Stiftung Weimar in Kooperation mit der Thüringer Staatskanzlei und dem Ministerium für Bildung, Jugend und Sport durchgeführt wurde, gefördert von der Stiftung Mercator im Rahmen von „Kreativpotentiale“, einem bundesweiten Programm zur Verankerung kultureller Bildung in Schulen und Bildungssystemen.

Mit dem „Kultur:Labor“ wollte die Klassik Stiftung Weimar besonders Schüler:innen in ländlichen Räumen, die rund 90 Prozent der Fläche Thüringens ausmachen, erreichen. Auf Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Schulen konnte die Klassik Stiftung bereits zurückgreifen; Neuland war für die Stiftung allerdings die aufsuchende Kulturarbeit – auch Outreach genannt: Durch neue Vermittlungsformate mit verschiedenen Schulformen und in Zusammenarbeit mit Künstler:innen und lokalen Akteur:innen vom Bürgermeister bis zur Feuerwehr stiftete sie Verbindungen zwischen eigenen Themen und Thüringer Lebenswelten außerhalb Weimars. So entstanden in zwei Jahren „Kultur:Labor Thüringen“ 13 Projekte an vier Schulen.

Schulen inhaltlich einbinden, operativ entlasten

Die angefragten Schulen zeigten durchweg Interesse, unabhängig von ihren Erfahrungen im Bereich kultureller Bildung. Dass sie im Projektverlauf vom Konzept des „Kultur:Labor“ überzeugt blieben, ist möglicherweise auch dem Ansatz der Klassik Stiftung zu verdanken, die Schulen inhaltlich einzubinden, sie aber in der Umsetzung möglichst von operativen Aufgaben zu entlasten.

Auf der Suche nach ortsrelevanten Themen durchforstete Friederike Wehrmann, Referentin für kulturelle Bildung bei der Klassik Stiftung, mit ihren Kolleg:innen Lokalzeitungen und Webseiten, besuchte die Orte, sprach mit Bewohner:innen und stieß dabei auf die Kettenburg: ein „großes Thema vor Ort“ mit Bezügen zur Residenzkultur als Schwerpunkt der Klassik Stiftung Weimar. Nach einem Brainstorming mit der Gemeinschaftsschule Tonna fiel die Wahl der praktischen Umsetzung auf drei (multi-)mediale künstlerische Formate, für die neben den bereits erwähnten Radiokünstler:innen auch eine Medienpädagogin, ein Lichtkünstler und ein Denkmalpfleger gewonnen wurden.

Improvisation gefragt: Kulturelle Bildungspraxis in ländlichen Räumen

Das Projekt wurde mit seinem Fokus auf kultureller Bildungsarbeit im ländlichen Raum vor typische Herausforderungen gestellt: Da die beteiligten Künstler:innen, wie andere Kreative auch, überwiegend in urbanen Räumen leben und arbeiten, verfügten die meisten nicht über Ortskenntnisse, ein eigener Pkw war nicht immer vorhanden, der öffentliche Nahverkehr schwach ausgebildet. So wurde im „Kultur:Labor“ nicht nur mit Kunstformen experimentiert, sondern auch immer wieder logistisch improvisiert und von Dynamiken der jeweiligen Dorfgemeinschaften profitiert.

Über die erfolgreiche Weiterentwicklung ihrer Outreach-Strategie hinaus ist die Klassik Stiftung Weimar vor allem auch mit dem Feedback der Schüler:innen zum „Kultur:Labor Thüringen“ zufrieden. Die Projektevaluation zeigt, dass die meisten Schüler:innen Dinge gelernt haben, die sie im Unterricht nicht gelernt hätten, auch über ihre Heimat. Wie zum Beispiel die Schüler:innen aus Tonna, die nun erzählen können, warum ihr Schloss eigentlich „Kettenburg“ genannt wird – nachzuhören im zweiten Teil des Audiowalks.

Fakten

Fakten zum Projekt

Projektteam

Klassik Stiftung Weimar (Projektträgerin), Thüringer Staatskanzlei, Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (Kooperationspartner)

Förder:innen, Fördersummen

Stiftung Mercator
Gefördert mit 506.000 Euro

Ressourcen

Projektkoordination durch das Team der Klassik Stiftung Weimar
Material, Technik und Räume abhängig von Einzelprojekten

Schulform, Altersgruppe der Teilnehmer:innen bzw. Klassenstufe

Schüler:innen an vier Schulen verschiedener Schulformen (Grund-, Gemeinschafts-, Regelschule und Gymnasium) in ländlichen Räumen Thüringens verschiedener Jahrgangsstufen von der dritten Klasse bis zur Oberstufe, bewusst fächerübergreifend

Kunstsparte

Diverse

Projektzeitraum

2021–2022

Kontaktmöglichkeit

Friederike Wehrmann
Referentin kulturelle Bildung
Klassik Stiftung Weimar
02 Stabsreferat Kulturelle Bildung
Burgplatz 4, 99423 Weimar