Bürgerinstitut e. V.
Historisches Museum Frankfurt
Kennst Du noch?
Eine „Bravo“-Zeitschrift mit Fernsehspionin Emma Peel, eine Heino-Platte mit dem Schneewalzer und ein Werbeplakat für „erfrischendes Rauchen“, ein VW-Käfer-Modell, ein Eierschneider und die gute alte „Creme 21“: Solche Artefakte der Neuzeit können Jüngere staunen machen und Ältere in Erinnerungen schwelgen lassen. Für Menschen mit Demenz können sie noch mehr: Als Alltagsgegenstände von damals werden sie an ausgewählten Montagen im Historischen Museum Frankfurt zu einem Schlüssel für kulturelle und soziale Teilhabe – stilecht präsentiert an einer mit Siebziger-Jahre-Geschirr ausgestatteten Kaffeetafel.
Das Gegenteil von Bewahren: Ein Museum auf der Spur des Vergessens
Zu den sogenannten „Erzählcafés“ kam es durch einen Moment der Selbstreflexion des Historischen Museums zu seiner Funktion als Erinnerungsspeicher. Mit der Sonderausstellung „Vergessen – warum wir nicht alles erinnern“ näherte sich das älteste Museum der Stadt 2019 dem Gegenteil von Bewahren aus wissenschaftlicher, künstlerischer und historischer Perspektive. Dabei setzten sich die Kurator:innen unter anderem mit dem Erkrankungsbild Demenz und dem gesellschaftlichen Umgang damit auseinander. Um betroffene Menschen einzubinden, nahm das Museum Kontakt mit dem Verein Bürgerinstitut auf. Gemeinsam entstand ein Pilotprojekt, in dem Menschen mit leichter bis mittlerer Demenz sich mit Gegenständen aus dem reichen Fundus des Museums beschäftigten.
Spielzeug, Schallplatte und Starschnitt: Teilhabe durch sinnliche Erfahrung
Die Zusammenarbeit war so erfolgreich, dass sie sich über die Sonderausstellung hinaus verstetigt hat und mit „Kennst Du noch?“ eine weitere Projektreihe für Menschen mit Demenz entstanden ist. Seit 2020 finden im Historischen Museum Frankfurt an einer Reihe von Vor- und Nachmittagen Erzählcafés mit bis zu sechs Teilnehmer:innen statt. Diese setzen sich unter fachkundiger Leitung Mitarbeitender des Museums sowie des Bürgerinstituts mit themenbezogen kuratierten Gegenständen wie Haushaltsartikeln, Spielzeugen und anderen kulturellen Artefakten aus der Zeit zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren auseinander, die aus dem Museumsfundus oder aus Nachlässen stammen, von Flohmärkten oder Kleinanzeigen-Portalen erworben wurden. Mit so vielen Sinnen wie möglich kommen die Teilnehmer:innen über die ästhetische Erfahrung ins Erinnern und Geschichten erzählen. Biografische Erinnerungen und Gefühle werden gemeinsam wiederentdeckt; aus dem Alltag und oft auch aus dem Gedächtnis verschwundene Gegenstände werden wieder präsent.

Wohlbefinden im Fokus
In den Erzählcafés stehen das Wohlbefinden, die individuelle Persönlichkeit und die Lebensqualität der Teilnehmer:innen im Fokus, nicht ihre Krankheit.
„Oft fragen uns Angehörige, was wir da eigentlich machen“, so Ann-Katrin Adams, die den Demenzbereich des Bürgerinstituts leitet. Viele sind neugierig und wollen selbst einmal dabei sein – angeregt von den spürbaren, positiven Stimmungsveränderungen der Teilnehmer:innen nach Besuchen des Erzählcafés. Aber die Betroffenen bleiben bei diesem Angebot unter sich, denn die Eigenständigkeit der Teilnehmer:innen sei ein hohes Gut, so Adams. Gleichwohl kommen auch die Angehörigen durch die Erzählcafés miteinander in Kontakt: Es entstehen Momente des Austauschs beim Bringen und Abholen der Teilnehmer:innen, einige gehen während der Erzählcafés gemeinsam einen Kaffee trinken und genießen die kurze Auszeit vom Betreuungsalltag.

Das Museum als lernende Institution
Dass die Erzählcafés die Teilhabe steigern, wird beispielsweise ersichtlich, wenn Teilnehmer:innen im Zeitverlauf aktiv und präsenter werden, wenn sie textsicher beginnen, Lieder mitzusingen. Anne Gemeinhardt, Kuratorin für Bildung und Vermittlung im Historischen Museum Frankfurt, betont, dass auch das Museum selbst mit seiner Organisationskultur durch das Projekt gelernt habe, etwa sensibler für die Perspektive und Bedürfnisse von Betroffenen zu werden und Partnerschaften zu verstetigen und auszubauen. Denn: Ohne das Bürgerinstitut mit seinen Zugängen zur Zielgruppe und der Fähigkeit, Vertrauen zu ihr aufzubauen, wäre es nicht in der Form gelungen, die Teilnehmer:innen zu erreichen.
Das Budget für die Projektreihe aus Mitteln der Commerzbank-Stiftung und der Familie Schambach-Stiftung ist zum Jahresende 2022 zwar ausgeschöpft, „Kennst du noch?“ soll aber weitergeführt werden – mit neuen Fördergeldern oder in kleinerem Maßstab, da die geringen Teilnehmer:innenbeiträge nicht für eine Kostendeckung der Erzählcafés ausreichen.
Zusätzlich haben die Macher:innen von „Kennst du noch?“ mit dem „Erinnerungskoffer“ ein Vermittlungsangebot für Pflegeeinrichtungen entwickelt, die den mit historischen Alltagsgegenständen gefüllten Koffer kostenlos ausleihen können. Dieser kann auch als Webanwendung für zu Hause „gepackt“ werden – bei der Beschäftigung mit den digitalen Erinnerungskoffern braucht es dann die Unterstützung durch Angehörige und Pflegende, um verborgenen Erinnerungen auf die Spur zu kommen.
Fakten zum Projekt
Commerzbank-Stiftung
Familie Schambach-Stiftung
Freie Mitarbeiter:innen zur Durchführung der Erzählcafés, historische Alltagsgegenstände
Menschen mit Demenz
vier bis sechs Teilnehmer:innen pro Erzählcafé
Museum
2020 bis 2022
Historisches Museum Frankfurt
Kuratorin Bildung und Vermittlung: Anne Gemeinhardt
Telefon: 069 21234611
E-Mail: Anne.gemeinhardt@stadt-frankfurt.de
Bürgerinstitut e. V.
Leitung Demenzbereich: Ann-Katrin Adams
Telefon: 069 97201741
E-Mail: kennstdunoch@buergerinstitut.de