Im Unfesten liegt die Zukunft
Von Petra Olschowski
Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg
Februar 2025
Nichts bleibt wie es ist. Das mag nun wahrlich keine neue Erkenntnis sein, gerade für die Kunst, die doch so oft gerade von Veränderung und Wandel, vom Hinter-sich-Lassen und In- die-Zukunft-Gehen ausgelöst wird. Robert Musil hat dies beispielhaft in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ beschrieben, dass diese Ordnung eben nicht so fest ist, wie sie sich gibt, dass „im Unfesten mehr von der Zukunft liegt als im Festen“ und „die Gegenwart nichts als eine Hypothese ist, über die man noch nicht hinausgekommen ist“.
All dies wissend und bedenkend ist es aktuell doch eine Zeit, in der so viele Umbrüche gleichzeitig stattfinden wie vermutlich selten zuvor. Das Tempo ist hoch – und davon sind viele Bereiche der Gesellschaft betroffen. Dass das zu grundlegenden Verunsicherungen führt, merken wir gerade, und dass damit auch Werte in Frage gestellt werden, für die viele Menschen, die in der Kulturszene arbeiten, Jahre lang gekämpft haben, auch. Demokratie, Freiheit, Vielfalt, Respekt, Toleranz, Teilhabe, Kooperationsfähigkeit. Als Basis für eine Gesellschaft, in der Raum für das Entstehen von Kunst und das Erleben von Kunst in ihrer ganzen Breite besteht, sind diese Werte aber von großer Relevanz.
Als die Covid-Pandemie zu Beginn der 2020er Jahre das Kulturleben in vielen Teil der Welt, auch in Deutschland, weitgehend lahm legte, dachten viele (mich eingeschlossen), diese Krise würde zu grundlegenden Veränderungen für die Arbeit von Museen, Theatern, Konzertanbietern, Vereinen, freien Ensembles, Initiativen, Kinos, Literaturhäusern, Kulturzentren führen. Das war nicht der Fall. Die Bedeutung der (oft fehlenden) Kultur wurde übereinstimmend festgestellt, die Szene selbst erwies sich als stabil und das Publikum übrigens weitestgehend auch.
Die Schwierigkeiten beginnen jetzt (nur kurze Zeit später) im Geleitzug der allgemeinen Verunsicherung, des Rechtsrutsches, der wachsenden Bedeutung des Digitalen, der großen Belastungen der Gesellschaft durch Kriege in Europa und im Nahen Osten und durch wirtschaftliche Instabilität. Dabei ist die Debatte um die Finanzen, die Bund, Länder und Kommunen plagen, nur ein Teil davon. Viel erstaunlicher ist, welche Ansprüche an Kulturinstitutionen gestellt werden, in welcher Sprache über sie gesprochen wird, wie offen ihr Wert für die Gesellschaft teilweise in Frage gestellt wird.
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Dabei gilt natürlich für die Kulturszene das Gleiche wie für die Kunst selbst: Im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen. Veränderung ist also Teil des Ganzen. Wie sie anzugehen ist? Dazu ist der Austausch von guten Modellen, erfolgreichen Erfahrungen, neuen Wegen notwendig. Austausch meint Gespräch. Und ich bin davon überzeugt, dass wir gemeinsam, offen und auf der Basis der sehr guten Kulturarbeit der allermeisten Einrichtungen in Deutschland ins Gespräch kommen müssen. Eine zentrale Aufgabe fast aller Institutionen ist es, die Vielfalt widerzuspiegeln, die unsere Gesellschaft auszeichnet, und mehr Menschen und andere gesellschaftliche Gruppen anzusprechen. Auch dafür gibt es viele unterschiedliche Wege.
Einen dieser Wege sind wir in Baden-Württemberg mit der Gründung des Zentrums für Kulturelle Teilhabe 2021 gegangen. Der Wunsch nach einer zentralen Anlaufstelle für Vermittlungs- und Teilhabefragen war während des in den Jahren 2018 bis 2020 vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst initiierten Beteiligungsprozesses „Dialog | Kulturpolitik für die Zukunft“ aus den Kultureinrichtungen angemeldet worden. Rund 1.250 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren an diesem Kulturdialog beteiligt.
Dabei hat sich unser Blick zunächst auf die Änderungsfähigkeit unserer Kultureinrichtungen gerichtet – in den oftmals starren inneren Strukturen und mit Blick auf ein sich veränderndes vielfältiges Publikum. Dabei geht es auch um Professionalisierung und Expertise. Die Chance, die kulturelle Teilhabe bedeutet, darf nicht dem Zufall der familiären Herkunft und auch nicht dem kommerziellen Markt oder den sozialen Medien überlassen werden. Das bedeutet aktive Beteiligung und ist im Idealfall wechselseitig wirksam. So wie Personen und Gemeinschaften an Kunst und Kultur reifen, benötigen Kultureinrichtungen Feedback, gerade von bisher unerreichten Gruppen.
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Das bundesweit in seiner Art einzigartige Zentrum für Kulturelle Teilhabe ist eine mit einem jährlichen Gesamtetat von 2,4 Millionen Euro ausgestattete Anlaufstelle für alle in Baden-Württemberg aktiven Akteurinnen und Akteure der außerschulischen kulturellen Bildung und Vermittlung. Als bedarfsorientierte Servicestelle unterstützt es Einrichtungen und ihre Kooperationspartner dabei, Kunst und Kultur für möglichst viele erlebbar zu machen. Mit Landesmitteln fördert das Zentrum Kultureinrichtungen in staatlicher, kommunaler und privater Trägerschaft, ob in urbanen oder ländlichen Räumen. Für ihre Projekte erhalten diese nicht nur finanzielle, sondern auch fachliche Unterstützung. Das Zentrum setzt dabei Anreize, interne Strukturen zu verändern, sich mit Partnern aus dem Umraum zu vernetzen, Erfahrungswissen auszutauschen sowie diversitätsorientierte und partizipative Prozesse zu verstetigen. Die aktuell in der Endphase befindliche Evaluation der ersten drei Runden des Förderprogramms »Weiterkommen!« attestiert dieser Art der Projektförderung einen Mehrwert. Das Zentrum investiert nämlich nicht in Projekte, die mit Ende der Förderung vorüber sind. Vielmehr will es transformative Prozesse anstoßen und begleiten. Ein Beispiel: Statt einmalig ein Partizipationsprojekt für junges Publikum zu fördern, unterstützt das Zentrum den Aufbau von Kinder- und Jugendbeiräten. Passend dazu vergibt es Stipendien für ein zertifiziertes Weiterbildungsprogramm für Moderatorinnen und Moderatoren für Kinder- und Jugendbeteiligungsprozesse und veröffentlicht als Download-Datei einen Leitfaden, wie die Zusammenarbeit mit Kinder- und Jugendbeiräten am besten klappt. Im November dieses Jahres richtet es eine Fachtagung zu Jungendbeteiligung in der Kultur aus. So wird die Mitsprache der jungen Zielgruppe auf ein höheres Level gebracht.
In der gesellschaftlichen Debatte zurzeit wird – auch das beobachte ich mit Sorge – auch die Kunstfreiheit selbst immer wieder thematisiert. Nur mit dem ganz grundsätzlichen Anspruch von Freiheit kann Kunst entstehen und kann im Gegenzug Künstlerisches unsere Wahrnehmung und unsere individuelle und kollektive Erfahrungswelt weiten. Diese Freiheit und ihre Grenzen dort, wo die Würde des Menschen angegriffen wird, regelt das Grundgesetz. Wenn aber Kunstwerke nicht mehr als Provokation für Gesprächsstoff sorgen dürfen, sondern von der Bildfläche verschwinden sollen, werden notwendige Debatten abgewürgt. Hier liegt auch eine Aufgabe der Kulturellen Bildung: Diskussion und Gespräch um Kunst und über Kunst möglich zu machen. Aus meiner Sicht gilt: Die Kunstfreiheit hält seismographisch den Zustand unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung fest. Jede Einschränkung schwächt letztlich die Demokratie und das Vertrauen in sie.
Denn dass die junge Bundesrepublik die Rahmenbedingungen für eine freie künstlerische Betätigung und die ungehinderte Präsentation der Werke in der Öffentlichkeit geschaffen hat, war mehr als ein symbolischer Akt.
Als 1949 das Grundgesetz in Kraft trat, waren die Wunden, die der Nationalsozialismus mit Entrechtung, Verfolgung, einem Angriffskrieg und der Shoah geschlagen hatte, noch frisch, aber auch jene Kräfte vielfach noch in Ämtern, die diesen Zivilisationsbruch erst möglich gemacht hatten. Ein zivilisatorischer Bruch, dem auch unzählige Künstlerinnen und Künstlern zum Opfer gefallen sind. Während der Weimarer Republik hatten genau diese in Berlin, aber auch hier in Mannheim oder Stuttgart ein äußerst vielfältiges, oft avantgardistisches Kulturleben zur Blüte gebracht.
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Genau hier zeigt sich aber auch die Grenze des Möglichen. Denn kulturelle Teilhabe und ästhetische Welterfahrung vermögen Demokratie und Freiheit nicht im Alleingang zu schützen. All die gut besuchten Lesungen, Ausstellungen, die gefeierten Theater- und Varieté-Ausführungen der 1920er Jahre, die Musik- und Tanzbars hatten das Erstarken des mörderischen Nazi-Regimes nicht verhindern können. Für ein menschliches und gerechtes Miteinander, für die Aushandlung von Kompromissen stehen alle in der Pflicht: jeder Mensch, jede Einrichtung. Überdies wäre es fahrlässig zu denken, an Kultur weniger interessierte Menschen wären schlechtere Demokratinnen und Demokraten. Umgekehrt gilt: Der Hang zur Malerei, zur Architektur, zu Bruckners Sinfonien und Wagners Opern schützt nicht davor, ein Faschist zu sein. Das hat uns die deutsche Geschichte gelehrt.
Dennoch gilt: Kunst kann wirken! Auch gesellschaftlich. Die positiven Effekte für ein demokratisches Miteinander aus der Beschäftigung mit Kunst und Kultur lassen sich belegen. Zum Beispiel durch die 2023 veröffentlichte Publikation der Europäischen Union „Culture and Democracy: the evidence“. Der 140-seitige Bericht trägt den Untertitel: „Wie die Teilnahme der Bürger an kulturellen Aktivitäten bürgerschaftliches Engagement, Demokratie und sozialen Zusammenhalt fördert“. Das Fazit: „Es besteht ein eindeutiger und positiver Zusammenhang zwischen den Teilnahmequoten der Bürgerinnen und Bürger an kulturellen Aktivitäten und den Indikatoren für bürgerschaftliches Engagement, Demokratie und sozialen Zusammenhalt.“ Bei aktiven Formen der Kunstbeteiligung sei dies noch stärker ausgeprägt als bei passiven.
Wie aber umgehen mit dem Befund, dass Teile der Gesellschaft tradierte Kulturorte allenfalls von außen kennen? Entscheidend ist: Eine in mehrerlei Hinsicht diverse Gesellschaft braucht eine große Breite an Kultur- und Vermittlungsangeboten, Gestaltungs- und Resonanzräumen. Dies ist das genaue Gegenteil einer imaginierten Leitkultur. Und noch etwas ist mir wichtig: Wie in Wissenschaft und anderen Bereichen muss es Exzellenz auch in der Kultur geben. Zugleich erwarte ich von den kulturellen Leuchttürmen, dass sie ihre Räume stärker als bisher denen öffnen, die nicht den Luxus einer eigenen Spielstätte haben. Umso schöner, wenn sich diese Extras auch künstlerisch auszahlen und bisher kulturell distanzierte Personen den Eindruck gewinnen: Dieser Ort der Kunst ist ja auch für uns da.
Die Öffnung der Kulturinstitutionen zu begleiten ist auch eine Aufgabe des Zentrums für Kulturelle Teilhabe, das in diesem Jahr nach dem Vorbild des bereits etablierten Diversity Audits für Hochschulen „Vielfalt gestalten“ den Pilotdurchlauf eines prozessorientierten Zertifikatverfahrens startet. Dieses wurde mit dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und unter Beteiligung von Kultureinrichtungen und einem Expertenkreis entwickelt. Das Ziel dieses strukturierten Verfahrens ist, Diversity Management als Querschnittsaufgabe in den teilnehmenden Kultureinrichtungen zu verankern und die damit verbundene Transformation der Einrichtungen zu unterstützen. Dabei stehen folgende Handlungsfelder im Fokus: Struktur und Strategie, Personal, Publikum, Programm, Partnerschaften und Gremien.
Zugleich müssen Kultureinrichtungen heute und künftig Antworten darauf finden, was die Gesellschaft von ihren Programmen hat – auch jenseits der künstlerischen Eigenwerte. Unbenommen sind Standorte, Kreativwirtschaft und Tourismus Nutznießer der Kulturförderung, vor allem aber investiert sie in Möglichkeiten, die außerhalb der Kunst nicht gedacht werden und eröffnet damit Gestaltungsspielräume. In diesem Sinne vermittelt kulturelle Bildung zentrale Zukunftskompetenzen: etwa gedankliche Flexibilität und Offenheit, genaue Wahrnehmung, die Bereitschaft zu Kollaboration und die richtigen Fragen zu komplexen Inhalten zu stellen.
Kunst und Kultur dürfen unterhalten, verstören, berühren, weinen und lachen machen. Mit ihnen lässt sich das Bestehende und das Zukünftige neu und anders denken. Genau deshalb braucht es eine breite kulturelle Teilhabe. Sie kann die Möglichkeit eröffnen, die Welt mitzugestalten. Gerade diese aktivierende Kraft sollte uns in einer Demokratie viel wert sein.
Geboren wurde Petra Olschowski am 29. Juni 1965 in Stuttgart. Nach dem Abitur machte sie eine Lehre als Einzelhandelskauffrau im Kunsthandel. 1986 studierte sie Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Stuttgart. Schon vor dem Abschluss mit dem Magister Artium arbeitete sie während ihres Studiums als freie Journalistin und Lektorin, als Dozentin für Kostümkunde und Kunstgeschichte sowie als Kuratorin. Von 1996 bis 2002 war sie nach einem Volontariat als Redakteurin bei der Stuttgarter Zeitung tätig, in den Ressorts Sport, Innenpolitik und Feuilleton. 2002 wechselte sie als Geschäftsführerin an die Kunststiftung Baden-Württemberg GmbH. Von 2010 an leitete sie als erste Rektorin die Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart.
Sie war mehrere Jahre als Sachkundiges Mitglied im Kulturausschuss des Stuttgarter Gemeinderats engagiert und hatte zahlreiche Ehrenämter inne.
Von Mai 2016 bis September 2022 war sie Staatssekretärin im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, bevor sie Ende September 2022 Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst wurde.